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Politik

"Truthähne stimmen für Weihnachten"

Barbara Wesel
19. April 2017

Mit 100 Stimmen über der benötigten Zweidrittel-Mehrheit hat das britische Parlament vorgezogene Neuwahlen beschlossen. Premierministerin May hofft auf eine Stärkung der Tories, der Labour Opposition droht ein Debakel.

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Truthahn
Bild: Chip Somodevilla/Getty Images)

Es war der konservative Abgeordnete Desmond Swayne, der bei der Debatte über die vorgezogenen Neuwahlen im Unterhaus boshaft Spott und Hohn über seine Kollegen von der oppositionellen Labour Party ergoss: Man müsse ihnen gratulieren, denn normalerweise würden "Truthähne nicht für Weihnachten stimmen, aber sie werden es tun!".

Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern

Labour-Parteichef Jeremy Corbyn hatte nämlich erklärt, er befürworte Neuwahlen, schließlich wolle seine Partei die konservative Regierung ablösen. Das scheint ein unrealistischer Traum: Nach Ansicht der Wahlforscher liegen die Tories derzeit rund 20 Prozent vor Labour - viele sozialdemokratische Abgeordneten werden also vorraussichtlich bei der Wahl am 8. Juni ihren Sitz verlieren. Dennoch folgten sie der Parteidisziplin und halfen Premierministerin Theresa May mit überwältigender Mehrheit ihre Pläne durchzusetzen.

Großbritannien Unterhaus Debatte | Theresa May
Theresa May gewann erstaunlicherweise die Unterstützung der Opposition für Neuwahlen Bild: picture-alliance/empics

Noch vor einem Monat hatte ein Regierungssprecher Neuwahlgerüchte kategorisch zurückgewiesen. Aber May verzog auch am Mittwoch keine Mine, als sie im Parlament ihre Meinungsänderung mit dem Brexit begründete: Die Frage sei, "wie können wir die größte Stabilität erreichen, um in den beginnenden Brexit Verhandlungen den besten Deal für Großbritannien zu bekommen". Deswegen sei dies der richtige Zeitpunkt für Neuwahlen.

Politischer Selbstmord von Labour

May nutzt also den Brexit für ihre parteitaktische Entscheidung und den Willen "des Volkes", das heißt der 52 Prozent der Wähler, die für den EU-Ausstieg stimmten. Kommentatoren der britischen Zeitungen bestätigen, dass im Hintergrund der Brexit stehe: May wolle ihre mit bisher 16 Sitzen knappe Mehrheit vergrößern. Dann sei sie weniger abhängig vom Willen ihrer Hinterbänkler und den Brexit-Skeptikern einerseits und der harten Fraktion der Befürworter andererseits, die den totalen Schnitt mit Europa verfolgen. Daniel Finkelstein schreibt in "The Times" der andere Grund sei Labour: "Die größte Oppositionspartei gehe mit einem Chef in diese Wahlen, den viele seiner eigenen Abgeordneten als Premierminister für nicht geeignet halten." Die Versuchung für May in dieser Situation sei gerade übermächtig.

"Man kann Theresa May nicht trauen"

Labour-Chef Corbyn wiederholte im Parlament seine Zustimmung: "Wir begrüßen die Chance für vorgezogene Neuwahlen." Ihm gehe es um die Interessen der Menschen, die Krise im Gesundheitswesen, die Einschnitte bei der Finanzierung von Schulen und so weiter. Die Tories wollten Großbritannien nach dem Brexit in ein Niedriglohnland und Steuerparadies verwandeln - dagegen forderten die Sozialdemokraten mehr öffentliche Investitionen. Mit einer solch vagen Botschaft könnte Corbyn die Erwartungen der Wahlforscher noch übererfüllen, die Labour den Verlust von rund der Hälfte ihrer Parlamentssitze vorhersagen.

Dennoch haben die Abgeordneten mehrheitlich für ihren möglichen eigenen Untergang gestimmt. Nur eine Handvoll rebellierten gegen das vorhergesagte Selbstmordkommando. "Corbyn stürzt sich der Vernichtung von Labour entgegen", schreibt Polly Toynbee in der Zeitung "The Guardian" - und gibt als Grund Realitätsverleugnung an. 

Die Liberal-Demokraten als Alternative

London Pro-EU Demonstration
Die Liberal-Demokraten sind die einzige Heimat für Brexit-GegnerBild: picture-alliance/empics/J. Stillwell

Wer den Brexit nicht will - das waren immerhin 48 Prozent der britischen Wähler - muss Liberal-Demokraten wählen. Als einzige Partei lehnen sie den EU-Ausstieg ab und erleben gerade eine politische Wiederauferstehung. Bei der vergangenen Wahl waren sie für ihre Regierungsbeteiligung unter David Cameron schwer abgestraft und auf neun Parlamentssitze geschrumpft worden. Seit der Verkündung der Neuwahlen aber steigen ihre Mitgliederzahlen wieder in Tausender-Sprüngen.

"May's Begründung für die Neuwahl ist Unsinn", sagt Liberalenführer Tim Farron bei der Unterhausdebatte, "sie will eine Krönung und keinen Wettstreit". Er preist seine Partei als Alternative für "Remainer" an und erlaubt sich sogar Mitleid für die Labour-Party: Sie in Neuwahlen hinein zu locken sei "wie wenn man einem Baby den Lutscher wegnimmt". Die Liberal-Demokraten werden den Tories vermutlich ein paar Sitze abjagen, aber sie werden kaum die politische Lücke füllen können, die durch den erwarteten Absturz von Labour entstehen dürfte.

Aufsässige Schotten

England Schottland Referendum Unabhängigkeit
Für die Schotten geht es um das neue Unabhängigkeits-Referendum Bild: picture-alliance/dpa/A. Milligan

Auch der Fraktionsführer der Scottish-National-Party greift Theresa May scharf an: Wenn sie davon rede, durch Neuwahlen die Teilung im Parlament zu überwinden, gehe es ihr doch nur darum, die Opposition zu zerdrücken, sagt Angus Robertson. Die SNP muss kämpfen, um ihre 56 schottischen Sitze zu verteidigen. Für sie geht es vor allem um das geplante zweite Unabhängigkeitsreferendum auf der Basis des schottischen Nein zum Brexit. Können die Tories etwa in Schottland wieder Boden gewinnen, stehen diese Abstimmung und die Macht von SNP-Chefin Nicola Sturgeon auf dem Spiel.

Wahlen sind immer ein Risiko

Die Meinungsforscher wollen bei dieser Wahl ihren angeschlagenen Ruf reparieren, den sie bei der Brexit-Abstimmung ruiniert hatten. Sie warnen trotz des riesigen Umfragehochs für die Tories, dass jede Wahl ein Risiko bedeute, auch wenn derzeit alles für Theresa May spreche. Am Ende entschieden in der Regel ganz andere Themen, als die Slogans aus den Wahlprogrammen. Auch seien politische Schicksale immer unberechenbarer geworden, schreibt Peter Kellner, ehemaliger Chef der Meinungsforscher YouGov, wie das Schicksal von Francois Fillon in Frankreich und Hillary Clinton in den USA zeige: Auch Favoriten können straucheln.