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Politik

Tri tra trullala im Europaparlament

Bernd Riegert Brüssel
16. Januar 2017

Kasperletheater oder mehr Demokratie? Sechs Kandidaten wollen Präsident des Europäischen Parlaments werden. Das gab es noch nie. Macht, Poker, Drama in Straßburg? Bernd Riegert berichtet.

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Präsidentenwahl Europäisches Parlament Straßburg Kasperlethetater
Bild: DW/B. Riegert

EU-Parlament: Präsident gesucht

Oft ist der Plenarsaal in Straßburg gähnend leer, wenn die europäischen Abgeordneten ihre Routine-Debatten abspulen. An diesem Dienstag wird das Haus voll sein, denn da zählt jede Stimme. Spannung liegt in der Luft vor der Wahl des neuen Parlamentspräsidenten. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist nicht vorher im Hinterzimmer ausgeklüngelt worden, wer das höchste Amt im Hohen Hause übernehmen soll. Bislang haben sich die größten Fraktionen des Parlaments, Konservative und Sozialisten, immer auf einen gemeinsamen Kandidaten oder eine Kandidatin geeinigt. An diesem Dienstag wird die Nachfolge von Martin Schulz (SPD) in einer wirklichen Wahl geregelt. Sechs Kandidaten treten an. Der Ausgang ist völlig offen, meint der europäische Wahlforscher Doru Frantescu von der Organisation "Votewatch". In einer Modellrechnung hat er versucht, den Kandidaten mit den besten Chancen in insgesamt vier Wahlgängen zu errechnen. "Votewatch" tippt auf Antonio Tajani, den Konservativen.

Aber die Unsicherheiten sind groß. Alle Kandidaten sind auf Stimmen der anderen Fraktionen angewiesen. Da müssen am Dienstag Koalitionen geschmiedet werden, Eitelkeiten bedient werden - Intrigen und Verrat sind nicht ausgeschlossen. Gianni Pittella, der Kandidat der Sozialisten, sieht darin eine positive Entwicklung. "Das ist ein dickes Ding", sagte Pittella der DW vor der Wahl. "Abzustimmen ohne Vorabsprachen ist eine schöne Sache. Am Ende nach vier Durchgängen gewinnt der, der die meisten Stimmen hat, auch wenn es nur eine oder zehn Stimmen sind. So viel Demokratie!"

Kandidaten Präsidentenwahl Europäisches Parlament Straßburg
Wer mit wem? Die Kandidaten für den Präsidentenposten brauchen VerbündeteBild: DW/B. Riegert

Kandidaten versprechen den Kleinen mehr Beachtung

Viele Abgeordnete waren überrascht, dass Sozialisten und Konservative die informelle große Koalition aufgekündigt haben. Die hat bislang für eine recht reibungslose Arbeit der Gesetzgebung und eine gute Zusammenarbeit mit der anderen Gesetzgebungskammer gesorgt. Der Ministerrat, also die Vertretung der nationalen Regierungen, muss Gesetzen ebenso zustimmen wie das Europäische Parlament. Die EU-Kommission schlägt die Gesetzestexte vor. Alle drei europäischen Organe hatten sich in einem "Trilog" genannten Vermittlungsverfahren oft hinter verschlossenen Türen auf Kompromisse verständigt. Der scheidende Parlamentspräsident Martin Schulz galt als Meister dieses Verfahrens. Die Gesetzgebung konnte so beschleunigt werden. Viele kleine Fraktionen und einzelne Abgeordnete fühlten sich aber übergangen. Das solle jetzt anders werden, verspricht Gianni Pittella im DW-Interview.

"Ich möchte Präsident des gesamten Europäischen Parlaments sein - Präsident aller Fraktionen und Abgeordneten." Sein Konkurrent Antonio Tajani stehe für die alte große Koalition, für Klüngel und für das Weiter so!, kritisierte Gianni Pittella. Der konservative Kandidat Tajani widerspricht im Gespräch mit der DW. "Ich will ein Präsident sein, der Brücken baut." Er werde anders als Martin Schulz, nicht nur seine eigene Meinung vertreten, sondern das ganze Parlament repräsentieren, auch die Minderheiten.

Deutsche Abgeordnete sagen im vertraulichen Gespräch, die Fußstapfen von Martin Schulz zu füllen, werde schwer. Schulz, der in die Bundespolitik wechselt, hatte dem Europäischen Parlament zumindest in Deutschland mehr Beachtung verschafft. Mit den beiden eher unbekannten italienischen Kandidaten der Sozialisten und Konservativen werde das wohl weniger gelingen.

Brüssel Antonio Tajani
Vertrauter von Italiens Ex-Premier Berlusconi: Antonio TajaniBild: picture alliance/dpa/W. Dabkowski

Wortbruch oder geschickte Taktik?

Eigentlich hatten sich die großen Fraktionen und die Liberalen vor zweieinhalb Jahren vertraglich darauf geeinigt, dass auf den Sozialdemokraten Schulz ein Konservativer als Präsident folgen soll. Doch davon will die sozialistische und auch die liberale Fraktion jetzt nichts mehr wissen. Der Chef der konservativen Fraktion, Manfred Weber, prangerte diesen "Verrat" öffentlicht an. Die Sozialisten rechtfertigen die Aufkündigung der großen Koalition damit, dass die anderen zwei Spitzenposten in der Europäischen Union, der Präsident der Kommission und der Präsident des Rates, mit konservativen Politikern besetzt sind. Sie hätten deshalb ein Anrecht wenigstens auf den Posten des Parlamentspräsidenten, rechnet der deutsche Sozialdemokrat Udo Bullmann vor.

Der Liberale überlistet sich selbst

Der liberale Kandidat Guy Verhofstadt witterte eigene Chancen, weil die zwei großen Fraktionen sich streiten. Verhofstadt versuchte, die italienische populistische Bewegung "Fünf Sterne" in sein Lager zu ziehen. Die Euro-Skeptiker passten aber überhaupt nicht zur liberalen Fraktion. Die bockte und Verhofstadt musste sein Wahlbündnis mit dem "Fünf-Sterne"-Führer Beppe Grillo wieder beerdigen. "Ich dachte, ach du Scheiße", sagte Verhofstadt auf die Frage, was er empfunden habe als sein seltsamer Plan scheiterte. Schließlich zog er seine Kandidatur zurück, wie Parlamentspräsident Schulz vor dem ersten Wahlgang mitteilte. Angeblich will die liberale Fraktion den ehrgeizigen Belgier auch als Vorsitzenden der Fraktion loswerden. Die "Fünf Sterne" sind reumütig in die Fraktion der radikalen EU-Gegner zurückgekehrt. Ihr Anführer ist nach wie vor der Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage von der britischen Unabhängigkeitspartei.

Gianni Pittella im Europäischen Parlament Fraktionsvorsitzender der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten
Chef der sozialistischen Fraktion kündigte die Große Koalition: Gianni PittellaBild: picture-alliance/dpa/D.Aydemir/AA

"Das Parlament wird durch diese Präsidentenwahl und ohne große Koalition politischer, kritischer, demokratischer", glaubt der deutsche Linken-Politiker Gregor Gysi, der kürzlich zum Chef der Links-Parteien Europas gewählt wurde. Gysi, der vor einigen Tagen das Europäische Parlament besuchte und sozusagen von außen auf das Drama schaut, meinte allerdings auch, dass jetzt die rechtspopulistischen Europagegner im Parlament mehr Einfluss bekommen. Die Konservativen könnten künftig auf Stimmen aus den beiden ganz rechten Fraktionen angewiesen sein. Aber auch für die Sozialdemokraten wird es schwieriger, Mehrheit zu organisieren. Sie müssten sich mehr auf die Stimmen von Grünen, Linken, Populisten und Kommunisten verlassen.

Einfache Mehrheit entscheidet am Ende

Relativ chancenlos bei der Wahl des Präsidenten am Dienstag sind die vier Kandidaten der Nationalkonservativen, der Rechtspopulisten, der Grünen und der Linken. Bemerkenswert ist lediglich die britische Kandidatin der Grünen, Jean Lambert. Sie stellt sich zur Wahl, obwohl Großbritannien die Europäische Union verlassen wird. Damit, so Lambert, wollten die Grünen ein Zeichen gegen den Brexit setzen. Andere Parlamentarier halten das für absurdes Theater.

Gewählt ist die Kandidatin oder der Kandidat, der die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt. Im vierten Wahlgang reicht dann die einfache Mehrheit. Sollte es im vierten Wahlgang Stimmengleichheit geben, entscheidet laut Geschäftsordnung des Parlaments das höhere Lebensalter, wer auf den Präsidentensessel darf. Bei jedem Wahlgang können neue Kandidaten aufgestellt werden. "Ich will da nichts ausschließen. Vielleicht gibt es auch noch einen Überraschungskandidaten, um einen Konsens zu finden", orakelte die Vorsitzende der Links-Fraktion Gaby Zimmer.

 

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union