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Toni Morrison: Liebe

Christine Harjes14. August 2006

Fünf Frauen zwischen Leidenschaft, Macht, Emanzipation in sechs Jahrzehnten: Vor allem aber handelt der Roman von Liebe. Ein viel versprechendes Thema. Aber Vorsicht …

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Genau wie Morrisons Paradies im gleichnamigen Roman zu einem blutigen Schlachtfeld mutiert - eine wild gewordene Horde von Männern metzelt die Bewohnerinnen eines ehemaligen Klosters nieder - ist auch die Liebe in den Büchern der afroamerikanischen Literaturnobelpreisträgerin niemals so wie man sie sich gemeinhin vorstellt.

Buchcover: Toni Morrison - Liebe

In ihrem Roman "Menschenkind“, für den Morrison mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, tötet eine Mutter ihr Baby, um es vor der Sklaverei zu bewahren. Zerstörerische Liebe. In "Jazz“ verfällt ein älterer, verheirateter Mann einer 18-Jährigen "mit so einer tiefen und schaurigen Liebe, die ihn dermaßen traurig und glücklich gemacht hat, dass er sie erschoss, nur damit das Gefühl anhielt“.

Misstrauen und Hass

Was also erwartet uns, wenn jemand, der sich solche Geschichten ausdenkt, einen Roman mit dem Titel "Liebe“ schreibt? Sicherlich keine Liebe auf den ersten Blick. Auch das ist ein bekanntes Phänomen bei Toni Morrison. Bei ihr liegen die Emotionen und die zwischenmenschlichen Beziehungen hinter der vordergründigen Handlung.

Im Zentrum von "Liebe“ steht der charismatische Bill Cosey, dessen Hotel in den vierziger und fünfziger Jahren erfolgreiche Afroamerikaner anzog. "Es war die Zeit, als Coseys Hotel und Seebad das beste und bekannteste Ferienziel für farbiges Volk an der ganzen Ostküste war.“ Aber das ist lange her. Bill Cosey lebt nicht mehr und das Hotel hat - nach seinem dramatischen Niedergang - schon vor vielen Jahren dichtgemacht. Trotzdem spukt Coseys Geist noch immer in den Köpfen seiner Witwe Heed und seiner Schwiegertochter Christine herum.

Wer war dieser übermächtige Mann? Und was wollte er? Diese Frage wird besonders virulent, als sich in Coseys Testament die Verfügung findet, sein Haus solle an sein "geliebtes Cosey-Kind“ gehen. Meinte er Heed, die ihn "Papa“ nannte oder Christine, seine letzte lebende Nachfahrin? Im ewigen Erbstreit vereint leben die beiden Frauen nebeneinanderher im selben Haus und belauern sich misstrauisch. Von Zeit zu Zeit bricht sich ihr Hass bahn. Der Leser ahnt, dass mehr hinter dieser Beziehung stecken muss. Aber was?

Kein Buch für den Nachttisch

Morrisons Roman liest sich wie ein Krimi. Und das nicht, weil sie schon früh in ihrer Geschichte einen Mord andeutet. Nein, wir begeben uns nicht nur auf die Suche nach dem Mörder, wenn wir immer tiefer in die komplizierten Beziehungen der Figuren eintauchen. Wir wollen wissen, woher der Hass, die Liebe und all die anderen Gefühle, die zwischen den Charakteren brodeln, kommen: Eine Geschichte, eine Erinnerung blitzt auf, macht uns neugierig ...

Die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Toni Morrison (Archivbild)
Die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Toni Morrison (Archivbild)Bild: dpa

... und dann müssen wir abwarten, Hypothesen aufstellen und wieder verwerfen, Bruchstücke kombinieren. Einige Rätsel lösen sich, andere nicht. So wie Bill Cosey, über dessen Innenleben wir nichts erfahren, fremd bleibt - bis zum Schluss. Auch wenn der Roman Stoff bietet, der eher nach einem Thriller klingt - Gruppenvergewaltigung, Prostitution, Brandstiftung, Kindesmissbrauch, Erpressung - so sind es nicht in erster Linie Taten sondern Gefühle, die fesseln. Was vordergründig wie Eifersucht und verletzter Stolz aussieht, entpuppt sich schließlich als Scham. Und die Geschichte vom großen Bill Cosey ist eigentlich die Geschichte einer großen Liebe zwischen zwei kleinen Mädchen.

Morrisons Romane verlangen Geduld. Die Autorin will, dass ihre Leser mit ihren Romanen kämpfen, sich anstrengen. So ist "Liebe“ vielleicht kein Buch für den Nachttisch. Aber ein Buch, das unsere Bemühungen mit dem Gefühl belohnt, eine ganz besondere Liebe gespürt und begriffen zu haben.


Toni Morrison
Liebe
Rowohlt, 2006
ISBN 3-499-23737-7