Sanitäre Grundversorgung in Indien
16. März 2009Rund 600 Millionen Menschen, etwa die Hälfte der indischen Bevölkerung, haben keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen. Die meisten Betroffenen leben auf dem Land. In der Regel bedeutet das, dass sie ihre Notdurft im Freien verrichten – zum Beispiel in den Feldern oder entlang von Bahnlinien. Allerdings hat sich in den letzten Jahren einiges getan, seit die Regierung eine neue Kampagne zur Sanitärversorgung für alle gestartet hat. So hätten 1984 nur acht Prozent der indischen Landbevölkerung Zugang zu sanitären Einrichtungen gehabt, erklärt Prakash Kumar, Sanitärexperte bei UNICEF. Zum Vergleich: Im Jahr 2008 waren es bereits 32 Prozent. "Die Kampagne zur Sanitärversorgung für alle hat aber effektiv erst 2000 begonnen, und die Haupterfolge sind in den letzten acht Jahren zu verzeichnen gewesen."
Ehrgeizige Ziele bis 2015
Bei diesem Tempo ist es wahrscheinlich, dass die indische Regierung ihr Versprechen, die gesamte Bevölkerung mit Toiletten zu versorgen, bis zum Jahr 2015 erfüllen kann. Doch im Gegensatz zu früheren Kampagnen legt die laufende Aktion großen Wert auf Überzeugungsarbeit und bindet die lokale Bevölkerung stärker mit ein. Sie muss eine Eigenleistung erbringen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es wenig Sinn hat, wenn die Regierung einfach Toiletten baut, denn die wurden oft als Lagerräume verwendet, weil das Bewusstsein fehlte - den Menschen war gar nicht klar, warum sie die Toiletten benutzen sollten.
Shobha Yadav ist eine Dorfbewohnerin im westindischen Bundesstaat Maharashtra. Ihre Familie von Tagelöhnern hat sich vor zwei Jahren selber eine Toilette gebaut. "Davor hatten wir bei Regen wirklich Probleme. Jedes Mal, wenn wir nach draußen mussten, waren unsere Hände und Füße voller Schlamm." Dieses Problem sei durch die Toilette jetzt behoben. Selbst die kleinen Kinder würden sie benutzen, lediglich ihre Schwiegermutter habe es am Anfang komisch gefunden, erinnert sich Shobha Yadav: "Sie sagte: Ich kriege da Bauchschmerzen! Ich war wirklich sauer auf sie. Und sie saß schmollend auf der Toilette. Aber inzwischen ist sie froh, dass wir eine haben!"
Nächstes Problem Wassermangel?
Es wird sich noch zeigen müssen, wie nachhaltig die Toiletten-Nutzung wirklich sein wird, wenn wirklich die gesamte Bevölkerung ausgestattet ist. Und Nachhaltigkeit ist noch in einem anderen Sinne ein drängendes Thema, gibt Prakash Kumar zu bedenken – denn weite Teile Indiens leiden jetzt schon unter Wassermangel. "Wir können in gewisser Weise froh sein, dass 600 Millionen Inder im Freien ihre Notdurft verrichten." Denn der Blick auf 2015 offenbart riesige Probleme. Bis dahin würden fast 1,2 Milliarden Inder konventionelle Toiletten benutzen. "Woher soll all das Wasser kommen? Wir müssen schon jetzt anfangen, nachhaltige Sanitärsysteme zu fördern", fordert Kumar. Andernfalls bräuchte Indien bald eine neue Kampagne, um die Toiletten mit Wasserspülung auf irgendeine Form von nachhaltigen oder Trocken-Klosetts umzustellen. Es gibt verschiedene Modelle solcher Sanitärsysteme. Sie beruhen darauf, dass Urin und Fäkalien gesammelt und dann vor Ort wiederverwertet werden: entweder als Dünger in der Landwirtschaft oder für Biogas-Anlagen.
Vorbild China?
Andere Länder sind in diesem Punkt schon wesentlich weiter als Indien: In China etwa werden schon über eine Million solcher nachhaltiger oder „Ecosan"-Toiletten benutzt. Ein Hauptproblem in Indien, wo es bislang nur kleinere Modellprojekte gibt, sind Tabus und psychologische Vorbehalte gegen die Nutzung menschlicher Fäkalien. Dr. Subhas Vithal Mapuskar hat bereits vor Jahrzehnten in einem Dorf bei Pune in Maharashtra Ecosan-Toiletten zur Biogas-Erzeugung eingeführt. "Am Anfang haben sie das Gas nur verwendet, um Wasser warm zu machen. Und dabei löste sich dann ihr erster Eindruck auf, dass dieses Gas 'schmutzig’ sei." Mit der Zeit aber sei der Wassereimer mehr und mehr durch den Schnellkochtopf ersetzt worden. Und das praktisch unbemerkt.
Umdenken ist also möglich – aber es braucht seine Zeit. Auch in der indischen Regierung, die sich erst langsam für die alternativen Toiletten engagiert. Vermutlich zu langsam, um das Zeitfenster bis 2015 wirklich zu nutzen.