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Proteste in Afghanistan

19. Mai 2011

Bei Demonstrationen im Norden Afghanistans eskalierte die Gewalt. Die Kluft zwischen afghanischer Bevölkerung, Regierungsvertretern und internationalen Truppen ist tief.

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Unruhen von einem Bundeswehr-Camp in Talokan (Foto: AP/dapd)
Unruhen von einem Bundeswehr-Camp in TalokanBild: AP

Die Nachricht muss sich herumgesprochen haben wie ein Lauffeuer. Mehr als 1000 Afghanen demonstrierten beziehungsweise randalierten am Mittwoch in Talokan, einer Kleinstadt im Norden Afghanistans, vor den Toren des so genannten PRT, einem kleinen zivil-militärischen Außenposten der Bundeswehr. "Tod Karzai, Tod den Amerikanern", skandierte die aufgebrachte Menge. Scheinbar unerheblich, dass der Protest fehl am Platz war. Denn hinter den Mauern des PRT harrten weder der afghanische Präsident noch Amerikaner aus, sondern 40 deutsche Soldaten, ein paar zivile Mitarbeiter und eine afghanische Wachmannschaft. Ein erstes Indiz für die Stimmung: emotionalisiert und wenig differenziert.

Bundeswehrsoldaten gehen seit Jahren in Talokan auf Streife, um Kontakt zur Bevölkerung aufzunehmen. (Foto: dpa)
Bundeswehrsoldaten gehen seit Jahren in Talokan auf Streife, um Kontakt zur Bevölkerung aufzunehmenBild: picture alliance/dpa

Die ersten Schüsse fallen, die Gewalt eskaliert. 12 Tote und mehr als 80 Verletzte lautet rund 24 Stunden später die Bilanz. Afghanische Polizisten und Mitarbeiter des afghanischen Geheimdienstes hätten das Feuer auf die Menge eröffnet, erklärt ein Sprecher der Bundeswehr. Während Abdul Jabar Taqwa, der zuständige Provinzgouverneur das rundheraus abstreitet: "Der Polizei wurde nicht erlaubt zu schießen. Die im PRT haben das Feuer eröffnet. Außerdem haben sie Handgranaten geworfen, die die Menge getroffen haben. Einige sind deshalb verletzt und getötet worden."

Inflation der Widersprüche

Bei der Rekonstruktion der Ereignisse sind Widersprüche offensichtlich. Der Gouverneur hat Aggressoren auf allen Seiten ausgemacht. Es hätten sich auch vermummte, bärtige Männer auf Motorrädern unter die Menschenmenge gemischt, versichert er: "Sie haben auf Menschen geschossen um die Menge noch mehr aufzubringen und die Stimmung weiter anzuheizen. Das waren Taliban aus den Dörfern", erklärt er auf Nachfrage.

Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" wiederum will erfahren haben, dass ein Provinzpolitiker Drahtzieher der Aufwiegelungen war. Die objektive Aufarbeitung der Ereignisse wird wohl noch Tage dauern. Falls sie überhaupt je gelingt.

Wahrheiten und Widersprüche

Es gibt allzu viele Wahrheiten in Afghanistan derzeit. Und Widersprüche. Auch bei dem Ereignis, das den Aufruhr in Talokan ausgelöst haben könnte: Die nächtliche Operation amerikanischer Spezialkräfte, bei der vier Afghanen, darunter zwei Frauen, getötet wurden. Mitglieder einer usbekisch-islamischen Terrorgruppe seien das gewesen, gibt die ISAF bekannt. Und: Das Vorgehen sei abgestimmt gewesen mit den afghanischen Partnern. Provinzgouverneur Taqwa bestreitet auch das. Kann er das wissen? Wer weiß überhaupt etwas in dieser Situation? Wer ist glaubwürdig und für wen?

Amanullahs Wahrheit

Afghanistans Präsident Hamid Karsai mit ausgebreiteten Armen (Foto: AP)
Afghanistans Präsident Hamid Karsai unter DruckBild: AP

Amanullah wohnt in der Provinz Takhar. Auch er hat sich sein eigenes Bild von den Ereignissen in Talokan gemacht: "Ein Grund für die Unzufriedenheit der Menschen in der Provinz ist, dass die Regierungsbeamten nur nach Beziehungen ausgewählt wurden. Ein weiterer Grund für die Demonstrationen war, dass ein paar Amerikaner in ein Haus eingedrungen sind und die Menschen getötet haben, die gerade Besuch hatten. Das haben auch andere Menschen aufgeschnappt. Sie haben demonstriert und die Menschen im PRT und die Sicherheitskräfte angegriffen."

Das klingt, als wenn aus gegenseitigem Vertrauen langsam ein Scherbenhaufen würde. Den könnte man kitten - wäre Talokan ein Einzelfall. Doch der Vorfall erinnert an die Ausschreitungen gegen das UN-Büro in Mazar-i-Scharif. Kurz vor den Ausschreitungen in Talokan hatte der ISAF-Sprecher und General Josef Blotz in einem Interview mit der "Stuttgarter Zeitung" noch erklärt, dass die ISAF zunehmend effektiver mit den afghanischen Partnern zusammen arbeite.

Aufgebrachte Afghanen tragen in Talokan einen Getöteten zu Grabe. (Foto: AP)
Aufgebrachte Afghanen tragen in Talokan einen Getöteten zu GrabeBild: AP

Verlorene Herzen und Köpfe?

Spätestens nach Talokan ist bei vielen ausländischen Helfern und Soldaten die Stimmung allerdings wieder gedrückt. Auch in der afghanischen Bevölkerung. Mirwais Patsun aus Helmand sagt, was derzeit viele Afghanen denken: „Häuser werden zerstört, Frauen und Kinder getötet. Ich denke, dass das den Afghanen und der internationalen Gemeinschaft schadet. Diese Bombardements und nächtlichen Einsätze werden nie akzeptiert werden. Deswegen werden die afghanische Regierung und die internationale Gemeinschaft scheitern und die Herzen des Volkes nicht gewinnen können."

Autor/in: Ute Hempelmann, Waslat Hasrat-Nazimi

Redaktion: Sybille Golte