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Walter Jens

Stefan Berkholz/kg10. März 2009

In dem Buch "Abschied von meinem Vater" beschreibt Tilman Jens die Krankheit Demenz, unter der sein Vater seit Jahren leidet. Das Buch hat eine Kontroverse ausgelöst.

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Walter JensBild: dpa

Ende 2005 stand die Diagnose fest: der große Kritiker, Essayist und Literaturwissenschaftler Walter Jens ist an Demenz erkrankt. Heute lebt der 85-Jährige in seinem Haus in Tübingen in einem bedauernswerten Zustand. Sein Sohn, der 54jährige Tilman, beschreibt in seinem Buch nicht nur die Krankheit seines Vaters, sondern legt auch den Finger in die Wunde deutscher Befindlichkeiten.

Engagement für selbstbestimmtes Sterben

Deutschland Demonstration gegen Notstandsgesetze in Düsseldorf 1968
Walter Jens engagierte sich 1968 für die DemokratieBild: picture-alliance/ dpa

Streitbar war Walter Jens schon immer: Das Mitglied der Schriftstellervereinigung "Gruppe 47" wandte sich bereits zu Beginn der so genannten "Wirtschaftswunder-Jahre" nach 1950 gegen die restaurative Politik der jungen Bundesrepublik. Im Zuge der Studentenunruhen von 1968 stellte der Tübinger Professor für allgemeine Rhetorik radikaldemokratische Ideen zur Entwicklung Deutschlands vor. 1995 gab Walter Jens zusammen mit dem katholischen Theologen Hans Küng das "Plädoyer für Selbstverantwortung" heraus, in dem er sich unter anderem mit der Würde des Menschen auseinander setzte, wie sie im ersten Artikel des Grundgesetzes festgeschrieben ist. Vehement vertrat Jens damals das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben und verstörte damit viele Zeitgenossen. Provokant fragte er bei einer Diskussion "Gilt der Artikel nicht mehr für jemanden, der stirbt? Hört dann die Würde auf? Kann der nicht sagen, Freunde, ich habe ein würdiges Leben geführt, und wünsche nicht, als sabbernder Greis elendig zu krepieren?"

Chronik einer Krankheit

Und nun? Wo er selbst in einem hilflosen Zustand ist? Wo er sich selbst ohne den Beistand einer privaten Pflegerin nicht mehr zurecht findet im eigenen Haus? Die Familie musste sich dem Thema stellen. Sohn Tilman beschreibt in seinem schmalen Buch zunächst die Auswirkungen der Demenz, er benennt die Symptome, die Beklemmungen, die Veränderungen seines Vaters. Und auch über das heikle Thema Sterbehilfe schreibt Tilman Jens. Ein Erlebnis hat sich ihm besonders ins Gedächtnis eingegraben: "Zwei Tage nach Neujahr 2007, der Tannenbaum stand noch, wir saßen auf unserer Couchgarnitur in Tübingen, und mein Vater sagt: ’Ihr Lieben, es reicht! Ich will jetzt sterben. Tut was!’ Pause", erinnert sich Tillmann Jens. "Ich kämpfe mit den Tränen. Meine Mutter sagt: ’Ja, ich versteh dich.’ Wir sitzen schweigend da. Und plötzlich lacht mein Vater und sagt: ’Aber schön ist es doch.’"

"NS-Verstrickung als Ursache für Demenz"

Buchcover Demenz von Tilman Jens
Tilman Jens´ Buch über den VaterBild: Gütersloher Verlagshaus

Der Sohn Tilman ist fest davon überzeugt: Die Krankheit seines Vaters brach aus, als der mit seiner NSDAP-Mitgliedschaft konfrontiert wurde. So hatte es Tilman Jens bereits im März vergangenen Jahres in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschrieben. Damit erntete er in der Publizistik einen Sturm der Entrüstung. Freunde des großen Rhetorikers wollten das nicht wahr haben. Doch Tilman Jens hat es so beobachtet. Ob Zufall oder nicht: Sein Vater, der alles öffentlich machte und sein Leben lang für Aufklärung stritt, verstummte in dem Moment, als ein dunkles Licht auf seine Aufrichtigkeit fiel.

Keine Abrechnung mit dem Vater

Mag das auch medizinisch zweifelhaft sein, die Familie hat es so zeitgleich erlebt. Tilman Jens hat so etwas wie einen Betroffenheitsbericht abgeliefert. Und er umkreist "das kollektive deutsche Schweigen", wie er es einmal nannte, die Verdrängung der NS-Zeit. Dennoch sei es keine Abrechnung mit dem wehrlosen Vater, wie manche Publizisten befürchteten und heute wieder behaupten.

"Ich habe ein so enges Verhältnis zu meinem Vater - also Vatermord, das war absurd." Als Antwort auf diese Vorwürfe hat er ein leises, reflektierendes Buch abgeliefert.