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Politik

Theresa May und der Brexit

20. Oktober 2016

2019 könnte es soweit sein: der formelle Ausstieg Großbritanniens aus der EU. Welche Rolle spielt Theresa May dabei? Nach 100 Tagen im Amt wächst der Druck auf die Premierministerin. Hat sie einen Plan?

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Großbritannien Parteitag der Konservativen in Birmingham Rede Theresa May
Bild: Reuters/T. Melville

Neue Amtsinhaber genießen ein Privileg. Man lässt sie 100 Tage in Ruhe. Schonzeit sozusagen. Erst danach gehen die Kritiker in Position. Vor allem in der Politik hat das Tradition. Theresa May, die britische Premierministerin, befindet sich gerade im Grenzbereich zwischen Kuschelzone und rauem Alltag. Noch herrscht Ruhe nach dem Juni-Sturm. Passiert ist ja auch noch nichts. Aber nun wird die Frage lauter: Hat sie einen Plan? Bis jetzt lautet Mays Mantra lediglich "Brexit bleibt Brexit".

Ihren Karrieresprung nach Downing Street No. 10 verdankt sie einer Revolution. Eine Revolte von "Millionen von vernachlässigten Bürgerinnen und Bürgern", sagte sie auf dem Tory-Parteitag, wie sie "nur einmal pro Generation" vorkomme. Der knappe Ausgang des britischen Referendums für einen Austritt des Königreichs aus der EU, den ihr Vorgänger David Cameron nicht wollte, macht sie nun zur Vollstreckerin des Brexits.

Einer Volksentscheidung, die keinesfalls - wie vor allem aus den Reihen der EU-Familie zu hören ist -, ein Betriebsunfall war. Meinungsforscher John Curtice kann von Reue bei den Briten nichts entdecken. Dürften sie noch mal, sie würden es wieder machen, versichert er. Selbst Theresa May war gegen einen Brexit. Doch nun macht sie sich das Votum zu eigen.

Britisches Parlament Brexit Kabinettsitzung
Kabinett immer unter Kontrolle: Ministerpräsidentin Theresa May wird respektiert, nicht geliebt Bild: Reuters/S. Rousseau/Pool

Erst wenige Tage im Amt, flog sie schon im Juli nach Berlin, ihrer ersten Auslandsreise als Premierministerin. Dort bekam sie nicht nur schöne Worte zu hören. Die EU habe Großbritannien nicht gebeten, die Union zu verlassen, wird Angela Merkel zitiert. Wie die politisch-ökonomische Scheidung auf europäisch nun vonstatten gehen soll (Artikel 50 des EU-Vertrags), darüber streiten die Tories noch. Und auch Mays Konzept ist bestenfalls in Konturen erkennbar.          

Die Tories entdecken den starken Staat

Auffällig ist vor allem eines: Seit dem Brexit-Votum sind aus den Tory-Reihen ganz neue Töne zu hören. Die Zeiten, in denen die Konservativen vor allem die Wirtschaft vor dem Staat  "schützen" wollten, scheinen einstweilen vorbei zu sein. Theresa May will inzwischen einen starken Staat, der die "Balance zugunsten der Arbeiter verschiebt".

Auch die rigide Sparpolitik (Austerität), unter der vor allem die Menschen am unteren Ende der Einkommensskala gelitten haben, steht vor ihrem Ende. Die Sorgen der Globalisierungsverlierer nehme sie ernst, sagt sie. Deren Ängste vor Zuwanderung sollen nicht mehr als provinziell abgetan werden.

Im Gegenteil: Die Premierministerin nimmt sich nun die städtischen und liberalen Eliten zur Brust. Gegen die Boni-Kultur der Konzerne will sie vorgehen, Steuerschlupflöcher schließen und die Finanzmärkte stärker regulieren. Und: die freie Marktwirtschaft müsse "repariert" werden. So könne es nicht weitergehen.

Man traut seinen Ohren nicht, die politischen Ziele der konservativen Aufsteigerin decken sich eins zu eins mit der Programmatik von Labour. Doch seit die politische Konkurrenz unter Jeremy Corbyn den harten Linkskurs propagiert, sind die Tories dabei, die verwaiste politische Mitte zu besetzen. Auf ihrer Parteitagsrede in Birmingham Anfang des Monats sprach Theresa May wörtlich von einer "neuen Mitte".      

Mit Pumps und absoluter Kontrolle

Spätestens seit dieser Grundsatzrede fragen sich die Tories, wie viele von den Wahlversprechen ihres Vorgängers sie zurücknehmen kann, ohne den Ruf nach Neuwahlen zu provozieren. Das strikte Sparprogramm David Camerons hat sie jedenfalls schon gelockert. Dessen Ziel, bis 2020 einen Haushaltsüberschuss zu erzielen, hat sie beerdigt. Bislang folgt ihr die Partei.

Berlin - Theresa May und Angela Merkel
Nicht ganz unähnlich - bis auf die Schuhe. Angela Merkels Bequemvariante und Mays Markenzeichen Bild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Theresa May, vor kurzem 60 geworden, gilt als absoluter Kontroll-Freak. Die Pfarrerstochter, die 1997 ins Unterhaus einzog, mischt sich regelmäßig ein bei ihren Ressortchefs. Bevor sie entscheidet, prüft sie lange, informiert sich und vermeidet so Fehler, berichten die, die sie als Innenministerin seit 2010 erlebt haben.

In diesem Verhalten wird ihr eine gewisse Ähnlichkeit zu Angela Merkel nachgesagt. Ihr Markenzeichen sind spitze Pumps im Leoparden-Design, doch diese modische Note macht aus ihr längst keine Plaudertante. Im Gegenteil: Small Talk ist nicht ihre Stärke, was sie auszeichnet, ist eine eher spröde Sachlichkeit.

Bis jetzt haben diese Eigenschaften der passionierten Tänzerin dabei geholfen, sich sicher auf dem politischen Parkett zu bewegen. "ich tratsche nicht über Leute beim Lunch", sagt sie über sich. Als Charakter findet sie Anerkennung, doch es bleibt die Frage: Wie will sie Großbritannien nach dem Brexit positionieren?       

Eisenhart oder windelweich raus?

Die Tendenz geht in Richtung harter Cut. Die Financial Times ging Anfang Oktober sogar schon soweit, den britischen Anteil an den rund 45.000 Cognac- und Weinflaschen in den EU-Kellern zurück zu fordern. Ganz zu schweigen von den gemeinsamen Kunstschätzen und Immobilien der EU-Familie. Gütertrennung also bis ins Detail.

Solchen Fußnoten des ungeklärten Scheidungsschauspiels interessieren Theresa May eher weniger. Ihr geht es im Kern um den Stopp der Zuwanderung aus der EU. Doch die Personenfreizügigkeit gehört in der Union zum Tafelsilber, ist also nicht verhandelbar. Bleibt Großbritannien bei dieser Prämisse, ist ein Verbleib in der Zollunion undenkbar. Die EU will es nicht akzeptieren, dass Waren und Dienstleistungen frei zirkulieren können, nicht aber Menschen aus der Union.

Großbritannien Treffen Theresa May und Martin Schulz
Ab jetzt ist jeder Besuch in Downing Street ein Abschiedsbesuch. EU-Parlamentspräsident Martin SchulzBild: picture alliance/AA/British Prime Ministry

Viel wird über ein Freihandelsabkommen spekuliert, bei dem Zölle wegfielen, dennoch aber bürokratische Hürden wie Genehmigungen einzeln ausgehandelt werden müssten. Als Muster könnte das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada dienen. Doch das würde Zeit kosten, und die Verhandlungen könnten sich bis zu sieben Jahre hinziehen.

Große Konzessionen kann Brüssel Großbritannien nicht gewähren, allein schon aus Sorge um den Zusammenhalt der Union. Die Zeichen stehen mehr auf einen harten EU-Abschied. Theresa May gibt die Richtung vor. Wir verlassen die EU, "um ein vollständig souveränes und unabhängiges Land zu werden". Das heißt: mehr Kontrolle über die Grenzen und dafür weniger Zugang zum Binnenmarkt. Man kann es sich aber noch nicht so richtig vorstellen. Weder in London, noch in Brüssel.