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"Religionen können Frieden stiften"

Stefan Reccius25. Oktober 2015

Fünf Fragen an Professor Charles Taylor zur multikulturellen Gesellschaft und Verweltlichung, zu kultureller Prägung und der Rolle von Religionen.

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Philosoph Charles Taylor auf der phil.COLOGNE (Foto: Imago/H. Galuschka)
Bild: Imago/H. Galuschka

Der deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas und sein kanadischer Kollege Charles Taylor sind am 29. September 2015 in Washington gemeinsam mit dem John W. Kluge Preis ausgezeichnet worden. Er gilt als höchste Ehrung für ein philosophisches Lebenswerk und ist mit 1,5 Millionen Dollar (1,3 Mio Euro) dotiert. Am Tag der Preisverleihung stellten sich beide in der Bibliothek des US-Kongresses den Fragen der Deutschen Welle.

DW: Herr Professor Taylor, als Weltreisender in Sachen Philosophie haben sie sich ausführlich dem Konzept der multikulturellen Gesellschaft gewidmet. Was ist ihre zentrale Erkenntnis?

Charles Taylor: Ich sehe das auf zwei Ebenen. Multikulturalismus ist zunächst eine Tatsache: Die Gesellschaften westlicher Demokratien werden immer multikultureller, zum einen aufgrund von Einwanderung, zum anderen, weil Menschen innerhalb einer Gesellschaft neue Identitäten annehmen oder weil neue Identitäten Gehör finden, man denke an die Feminismus-Bewegung. Dadurch werden Gesellschaften immer facettenreicher. Daraus folgt als zweites die Frage, wie wir damit umgehen und uns gegenseitig respektieren.

Gleichzeitig werden die europäischen Gesellschaften immer säkularer. Was folgt daraus?

Ein gewisser Grad an Säkularismus ist notwendig. Diesem Prinzip zufolge gründet sich keine Gesellschaft allein auf einer Religion oder Weltanschauung. Andere Ansichten müssen in solchen Gesellschaften also zu einem gewissen Grad respektiert werden. Leider wird dies mitunter als Grund hergenommen, bestimmte Gruppen auszuschließen, weil sie nicht in eine säkulare Gesellschaft passten. Das ist ein Missbrauch von Säkularismus.

Die europäischen Gesellschaften werden zurzeit besonders durch die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und aus Afrika vor neue und unabsehbare Aufgaben gestellt. Was ist ihre philosophische Sicht zur Integration dieser Menschen?

Integration hängt von der Zivilgesellschaft ab. Zuletzt haben wir einen sehr beeindruckenden Fall zivilgesellschaftlichen Engagements in Deutschland gesehen. Mich besorgt, dass in vielen westlichen Gesellschaften Misstrauen gegenüber Menschen von außerhalb, speziell muslimischen Glaubens, diese Reaktion der Zivilgesellschaft verhindert. Bei den derzeitigen Größenordnungen kann der Staat alleine das nicht bewältigen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass gerade Gesellschaften, die früher jenseits des Eisernen Vorhangs gelebt haben, negativ reagieren. Aber auch in westeuropäischen Gesellschaften gibt es solchen Tendenzen, man denke zum Beispiel an den Populismus des Front National in Frankreich. Dagegen müssen wir ankämpfen, um auf humane Weise auf diese humanitäre Katastrophe zu reagieren.

Sie wissen um die ethischen Grundlagen des Christentums und die Bedeutung des christlichen Menschenbildes für Europa. Gleichzeitig leben wir in einem "säkularen Zeitalter", so der Titel eines ihrer Bücher. Macht dies die Integration von Menschen aus fremden Religionen und Kulturen in Europa schwerer?

Das hängt davon ab, wie die Menschen ihren christlichen Glauben verstehen. Viktor Orbán sieht eine Gefahr für die christliche Kultur Ungarns. Ich als Christ finde diese Aussage befremdlich. Aber ich weiß, dass viele Menschen den christlichen Glauben schlicht als die kulturelle Grundlage betrachten, mit der sie leben, und dass Menschen aus der islamischen Welt eine andere Grundlage haben. Ich denke, dass dieses Verständnis ihres christlichen Erbes einem Leben nach christlichen Grundsätzen in gewissem Sinne hinderlich ist.

Trauen Sie als Philosoph und bekennender Katholik den Religionen zu, Friedensstifter zu sein?

Absolut. Alle Religionen lehren, wie sich Menschen miteinander versöhnen können. Das kann Inspiration sein, Grenzen zu überbrücken.

Das Gespräch führte Stefan Reccius.