1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Taizé-Pilger suchen neuen Gemeinsinn

30. Dezember 2011

In ganz Europa hat die religiöse Gemeinschaft von Taizé vor allem bei Jugendlichen viele Anhänger. Sie treffen sich zu Silvester abwechselnd in Ost und West - dieses Mal in Berlin.

https://p.dw.com/p/13biP
Teilnehmer des Europaeischen Jugendtreffens der Gemeinschaft von Taize vor dem Abendgebet (Foto: dapd)
Bild: dapd

Normalerweise ist Berlin zwischen Weihnachten und Silvester ziemlich leer, nicht so in diesem Jahr. Zehntausende Jugendliche aus ganz Europa pilgern dieser Tage nach Berlin. Aber nicht, um in der Partyhauptstadt einen drauf zu machen, sondern um vier Tage (28.12.2011-01.01.2012) lang gemeinsam zu beten.

Eingang zur Taizé-Gebetshalle auf Berliner Messegelände (Foto: DW/Scholz)
Treffpunkt Messehalle 2-2 - eine von vier GebetshallenBild: DW/Scholz

Auf dem zugigen und nicht sehr einladenden Messegelände versammeln sie sich allabendlich in vier eigens dafür umgestalteten Hallen. Jeweils sieben Sprachen sind einer Halle zugeordnet. Die Gebete finden in Deutsch und Englisch statt. Es gibt aber Simultanübersetzungen mittels Funkradios oder Audiosticks.

Die meisten Teilnehmer des 34. Europäischen Jugendtreffens der ökumenischen Glaubensgemeinschaft von Taizé sind wohl noch keine 20 Jahre alt. Viele haben Kapuzenpullis, Jeans und Turnschuhe an. Die Mädchen tragen kaum Schmuck und Make-up - ganz anders als die Teilnehmerinnen der populären Casting-Shows im Fernsehen.

Wenig Tamtam

Der Prior der Gemeinschaft von Taize, Bruder Alois (Foto: dapd)
Prior der Gemeinschaft von Taizé, Bruder (frz: Frère) AloisBild: dapd

Das erste gemeinsame Gebet naht, die Hallen füllen sich. Leise erklingen Chor-Gesänge, begleitet von Gitarren und Geigen. Helfer tragen Schilder mit der Aufschrift "Silence", also "Stille". Die Jugendlichen halten sich daran. Die Wände sind orange angestrahlt. Dazu gibt es viele Kerzen, die wärmendes Licht spenden. Dann kommen Mönche in weißen Kutten herein und setzen sich auf ein Podest vor einer Marienstatue. Der Übergang zur gemeinsamen Gebetsstunde ist fließend. Tausende Jugendliche hocken jetzt in Quadranten sortiert, manche haben die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt. Ein zehnminütiges stilles Gebet lässt die Stimmung in der Halle feierlich und spirituell werden - an einem Ort, wo sonst turbulentes Handelstreiben herrscht.

Teilnehmer des Europäischen Jugendtreffens der Gemeinschaft von Taize während des Abendgebets (Foto: dapd)
Gemeinsam singen und betenBild: dapd

Dann ist die Stimme von Bruder Alois zu hören, Abt von Taizé und Nachfolger des Ordensgründers Frére Roger. Er erklärt die besondere Bedeutung des Gastortes Berlin für das diesjährige Treffen: "Berlin ist heute ein Symbol für alle Menschen, die irgendwo auf der Welt versuchen, trennende Mauern niederzureißen und Vertrauen zu stiften." Und Mauern gebe es, sagt er weiter, nicht nur zwischen Völkern, sondern auch in den Herzen der Menschen. "Damit diese Mauern fallen können, versuchen wir in diesen Tagen, neuen Elan aus den Quellen des Vertrauens zu schöpfen."

Erwachsene Probleme

Taizé-Teilnehmerinnen aus Österreich (Foto: DW/Scholz)
Pilgerinnen aus ÖsterreichBild: DW/Scholz

Nein, sie seien zwar zum ersten Mal bei so einem großen Treffen, sagen viele der befragten Jugendlichen. Aber die Glaubensgemeinschaft von Taizé würden sie schon von persönlichen Besuchen des Männerordens in Frankreich kennen. Die 18-jährige Desiree aus Köln spricht vom "besonderen Taizé-Feeling", das sie hier in Berlin wieder spüren möchte. "Wieder neue Kraft zu schöpfen durch die Stille", sagt sie. "Ich mag das Besinnliche, einfach mal abschalten zu können", sagt die 17-jährige Isabella aus Österreich, "dem Alltagsstress irgendwie zu entkommen".

Dass sie sich auf eine große Silvestersause in Berlin freuten - immerhin die größte Party in Europa - das sagt kaum einer der Befragten. Eine junge Bayerin aber möchte zusammen mit ihrer Freundin am Brandenburger Tor vorbeischauen. Sorgen macht sie sich nur, ob nachts die S-Bahnen wieder zurück in ihr Gastquartier nach Potsdam fahren.

Die Pilger sind auf die gesamte Region verteilt. Die meisten schlafen bei Gastfamilien, die sich nach einem Aufruf der Kirchengemeinden freiwillig gemeldet haben. Viele Gasteltern, so hört man, hätten mit der Kirche eigentlich wenig zu tun, wollen aber das Jugendtreffen unterstützen. So müssen letztlich nur wenige Teilnehmer in Turnhallen nächtigen.

Neben den gemeinsamen Gebeten mittags und abends gibt es dutzende Veranstaltungen für die Pilger in der Stadt. Dazu gehören Treffen in der Jüdischen Gemeinde und in Moscheen. Auch die gesellschaftliche und kulturelle Geschichte Berlins und Deutschlands wird vermittelt, zum Beispiel durch Besuch der Mauergedenkstätte oder der vielen Museen in der Stadt.

"Energieschub für die Seele"

Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckardt bei einem Gespräch mit Teilnehmern des Taize-Treffens (Foto: dapd)
Gastgeberin im Bundestag: Katrin Göring-Eckardt (Bildmitte vorn)Bild: dapd

Stark besucht ist das gemeinsame Treffen mit Bundestagsabgeordneten im Reichstag. Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt hat es organisiert und parteiübergreifend noch andere Parlamentarier überzeugen können, ihre Weihnachtsferien für die Taizé-Pilger zu unterbrechen. Gekommen sind auch die Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Thierse von den Sozialdemokraten und Petra Pau von der Linkspartei.

Vertrauen und Solidarität seien nicht nur religiöse, sondern auch politische Themen, sagt Göring-Eckardt, selbst Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands. Deshalb sei es wichtig, verschiedene Erfahrungen aus den Ländern Europas zu teilen. Sie erhoffe sich einen "Energieschub für die Demokratie durch den Energieschub für die Seele", der mit so einem Treffen verbunden sei.

"Begegnungen lösen keine Probleme"

Die Teilnehmer der anschließenden Diskussionen in zwei der Fraktionssäle im Reichstag haben sich mit ihren Fragen gut auf das Treffen vorbereitet und hören den Politikern genau zu. Sie interessiert zum Beispiel, wie Deutschland bei der Lösung der Kosovo-Frage helfen will, ob Visafragen noch zeitgemäß sind, wie Minderheiten in einer Demokratie geschützt werden können oder was der Bundestag für den weltweiten Gerechtigkeitsausgleich zwischen arm und reich machen kann.

Bundestagsmitglieder in Diskussion mit Taizé-Teilnehmern im Berliner Reichstag - u. a. Wolfgang Thierse und Katrin Göring- Eckhardt (Foto: DW/Scholz)
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (2. von rechts)Bild: DW/Scholz

Wolfgang Thierse, einst führender Oppositioneller in der DDR, holt in seinen Antworten weit aus. Das Niveau ähnelt dem eines Politikseminars, so dass der englische Dolmetscher manchmal kaum die passenden Übersetzungsworte findet.

Die Zuhörer schreiben mit, wenn Thierse den Sozialstaat als europäische Kulturleistung beschreibt, den Zusammenhang von Gerechtigkeit, sozialem Frieden und Freiheit erklärt oder die Notwendigkeit des Streites in einer Demokratie unterstreicht. Als eine Pilgerin davon spricht, Gerechtigkeit durch Begegnungen herstellen zu wollen, entgegnet Thierse ihr: "Begegnungen lösen keine Probleme."

Alternative zu Facebook

Vertrauen in die Zukunft zu geben, ist eines der Ziele der Gemeinschaft von Taizé. Und wo Vertrauen ist, da sei auch Verantwortungsbewusstsein, heißt es. Die Pilger wissen um ihre zukünftige Rolle als Generation im neuen Europa, so entsteht der Eindruck, und sie denken über Werte im Zusammenleben nach.

Taizé-Teilnehmer aus Deutschland (Foto: DW/Scholz)
Diese beiden Teilnehmer aus Köln suchen Alternativen zu Stress und OberflächlichkeitBild: DW/Scholz

"Es fängt alles bei der Jugend an, glaube ich, sich zu entwickeln", sagt der 18-jährige Thomas aus Österreich, "und erst dann greift es auf die Allgemeinheit über." Hier ist es anders als sonst, sagt Desiree aus Köln. "Bei Facebook hat man 500 Freunde, chattet ein bisschen miteinander und wenn man keine Lust auf die Person hat, dann klickt man die einfach weg, man muss nicht miteinander Konflikte lösen." Viele Jugendliche seien begeistert von Taizé, sagt ein 25-jähriger Teilnehmer aus Köln. "Weil hier auf einmal alle so nett sind, anders als in der Schule, wo doch nur noch gemobbt wird, jeder auf seins guckt und es den immensen Leistungsdruck gibt."

Autor: Kay-Alexander Scholz

Redaktion: Peter Stützle