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Tagebuch aus Harbin

Günter Schwarz26. November 2005

Wurde womöglich mit anderen Meldungen vom Chemie-Unglück in China abgelenkt? Günter Schwarz beschreibt, wie die chinesischen Medien mit der Katastrophe am Songhua umgegangen sind.

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Der Fluss Songhua ist über eine Länge von 80 Kilometern mit Benzol verseuchtBild: dpa - Bildfunk

Ein 80 Kilometer langer Teppich aus giftigem Benzol treibt seit knapp zwei Wochen den Songhua-Fluß in Nordost-China hinunter. Das krebserregende Gift war am 13.11. nach einer Explosion in einer Chemie-Fabrik in der Provinz Jilin in den Fluß gelaufen - ungehindert von irgendwelchen baulichen Barrieren. Am Donnerstag (24.11.) erreichte es die Millionenstadt Harbin. Dort herrscht seit Tagen der Ausnahmezustand, die Wasserversorgung ist unterbrochen, Menschen verlassen die Stadt. In Harbin lebt Günter Schwarz. Er arbeitet dort an der Northeast Forestry University im Bereich ökologische Forstwirtschaft. Schriftlich hat er die letzten Tage in Harbin dokumentiert.

Montag, 21.11.2005

Gerüchte gehen um über ein Erdbeben der Stärke 5, das angeblich zwischen dem 20. und 30. November in Hulan, nahe Harbin, ausbrechen soll. Die Chinesen decken sich mit Lebensmitteln ein. Ich habe meinen Kollegen versucht zu erklären, dass Erdbeben so genau nicht vorhersagbar sind, aber niemand wollte mir Glauben schenken.

Weitere Gerüchte besagen, dass in der Stadt Jilin, in der benachbarten, gleichnamigen Provinz, eine Chemiefabrik explodiert ist und den Songhuafluss verschmutzt und vergiftet hat und man das Leitungswasser nicht mehr benutzen sollte. Das habe ich gleich geglaubt und mir sofort zwölf Flaschen Mineralwasser gekauft. Bestürzt hat mich lediglich die Tatsache, dass ich bereits seit über fünf Jahren Wasser aus diesem Dreckfluss für meinen Kaffee und zum Kochen benutze.

Zu beiden Katastrophen sind offizielle Stellen dazu verpflichtet, strengstes Stillschweigen zu halten, um keine Panik auszulösen.Am Abend weiß aber bereits sogar schon die BBC von dem Wasserproblem.

Dienstag, 22.11.2005

Zu beiden Katastrophen erscheinen am Morgen fragmentarische, aber mehr oder weniger bestätigende Mitteilungen in den lokalen Medien. Das Erdbeben soll heute zwischen 20 und 22 Uhr stattfinden.

In Harbin wird tatsächlich das Wasser abgedreht und soll erst in vier Tagen wieder verfügbar sein. Ich konnte gerade noch rechtzeitig alle leeren Behälter sowie meine Waschmaschine mit Wasser auffüllen. Mehrere meiner Versuche, die Meldung der BBC per Internet zu erhaschen, scheiterten jedoch an einer ganz offensichtlichen Blockade.

Ganz sicher ist nicht nur Harbin selbst davon betroffen, sondern weite Gebiete in den Provinzen Jilin und Heilongjiang. Ich frage mich, um welche Chemikalien es sich wohl handeln könnte, die da angeflossen kommen. Die Chinesen sprechen von "Ben", womit wohl Benzol gemeint ist, das sich jedoch nicht mit Wasser mischt und somit leicht abzuscheiden wäre.

Am Abend war natürlich außer dem Stampfen und Husten im Treppenhaus - damit das Licht angeht! - und dem Türeschlagen meiner Nachbarn, nicht die geringste Erschütterung zu spüren - kein Erdbeben also!

Mittwoch, 23.11.2005

Eine diffuse, unterschwellige Katastrophenstimmung hält an. Das Wasserproblem ist da, das Erdbeben kann ja noch kommen. Nachtkrankenschwestern müssen seit Dienstag Nacht bis Ende des Monats stets eine Taschenlampe mit sich tragen, weil bei einem Erdbeben mit Stromausfall gerechnet werden muss. Die Kinder haben schulfrei. Viele Leute verlassen aus Angst vor dem Beben die Stadt. Es gibt keine Bus-, Bahn- und Flugtickets mehr. Ein Resultat pseudowissenschaftlicher Prognose.

Panik und Massenflucht beruhen nicht auf dem Wasserproblem. Das Wasser ist ja sowieso abgestellt und kann daher vorerst keine Personen, sondern "nur" die Umwelt gefährden. Allerdings ist in manchen Läden das Mineralwasser ausverkauft, viele andere verkaufen zum Teil neue Marken zu erhöhtem Preis. Keiner ist sich sicher, woher dieses Wasser kommt. Kontrollen hinken der rasanten Entwicklung weit hinterher. Die benachbarte Universität für Traditionelle Chinesische Medizin hat kurzfristig einen Brunnen gebohrt und stellt am Abend bereits Brauchwasser zur Verfügung.

Die "Harbin English News - Your Daily Visit to China's Wonderland" werden nicht wie gewohnt um 13:15 Uhr gesendet, stattdessen wird mit Reklame weitergemacht. Darunter ein sehr langer Spot, wie junge Damen quasi über Nacht mit einem speziellen Tee ihr Fett vom Bauch zur Brust transferieren können.

Donnerstag, 24.11.2005

Vor meinem Haus hat eine ganze Familie in ihrem Auto die Nacht verbracht.

Im Fernsehen wird gezeigt wie Leute sich auf freien Plätzen versammeln, um sicher vor einstürzenden Häusern zu sein.

Ich lese den "Spiegel-online" und entnehme, dass der Chemieunfall bereits am 13.11. geschehen war. Das beunruhigt mich, weil dann mein Wasservorrat längst verseucht sein kann. Später erfahre ich jedoch, dass wegen der teilweisen Eisbedeckung des Songhua die Chemikalienfront erst vergangene Nacht Harbin erreicht hat.

Überall wird Mineralwasser in Flaschen angeliefert. Der Handel - nicht nur mit Wasser - boomt. Metro, Wal-Mart und Carrefour machen seit Tagen Umsätze wie noch nie. Sie werden sogar ihre Ladenhüter los.

Freitag, 25.11.2005

Ich habe überlegt und mir die Vorgänge vom Frühjahr 2003 in Erinnerung gerufen. Damals kamen viele SARS-Flüchtlinge aus dem Süden Chinas nach Harbin, wo noch kein Krankheitsfall aufgetreten war. Alle Hotelzimmer der Stadt waren bereits ausgebucht, und die Gefahr einer SARS-Einschleppung wuchs.

Eines Morgens wurden offiziell vier Fälle von SARS-Verdacht bekannt gegeben. Dieses "amtliche Gerücht" rechtfertigte Straßensperren, ein Quarantänelager auf der Sonnenscheininsel und andere städtische Massnahmen. So hielt man Harbin SARS-frei.

Die Koinzidenz der jetzigen Ereignisse lässt in mir den schlimmen Verdacht aufkommen, dass es sich möglicherweise bei der Erdbebenmeldung um ein bewusstes Ablenkungsmanöver handeln könnte. Das Wasserproblem wird damit in den Schatten gestellt. Ängstliche Städter und Querulanten verlassen Harbin und entlasten den Trinkwasserbedarf.

Später kann man dann ein längst fälliges, passendes Bauernopfer bringen. Ich denke dabei zum Beispiel an jemanden von der "China Earthquake Administration". Dort hat man sich in der Vergangenheit mit Erdbebenvorhersagen sehr weit aus dem Fenster gelehnt, aber seit mehr als acht Jahren keine Erfolgsmeldung mehr vorweisen können.

Ich kann mich natürlich auch irren.