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Politik

"Wir brauchen euch nicht"

18. Mai 2017

Schluss, aus, vorbei - immer wieder droht der türkische Präsident Erdogan mit dem Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen. Steht die türkisch-europäische Freundschaft vor dem Aus? Julia Hahn berichtet aus Istanbul.

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Türkei Stimmen aus Istanbul zu einem möglichen EU-Beitritt der Türkei
Bild: DW/J. Hahn

Wer wissen will, was die Anhänger von Präsident Erdogan über die Europäische Union denken, kommt nach Esenler. Das Viertel liegt gut eine halbe Stunde Autofahrt vom Istanbuler Stadtzentrum entfernt. Viele Menschen hier sind tief religiös, treue Wähler der regierenden AKP. Beim Verfassungsreferendum im April haben in Esenler 66 Prozent Ja gesagt - Ja zu mehr Macht für Staatschef Erdogan.

"Wir wollen Europa nicht", ruft mir ein Schuhputzer entgegen. Seinen Namen will er nicht nennen, aber seine Meinung unbedingt loswerden. "Die EU ist nicht unser Freund, sondern unser Feind", sagt er und bürstet ein paar Lederschuhe. "Und sollten wir demnächst per Referendum über den Beitritt abstimmen, dann sagen wir Nein. 80 Prozent von uns werden Nein sagen, da bin ich mir absolut sicher." Mit der EU-Flagge, die ich mitgebracht habe, kann er nichts anfangen. Fürs Foto posiert er stolz mit der türkischen.

Türkei Stimmen aus Istanbul zu einem möglichen EU-Beitritt der Türkei
"Die EU ist unser Feind", sagt dieser Schuhputzer im konservativen Istanbuler Stadtteil EsenlerBild: DW/J. Hahn

Wie der Schuhputzer denken viele hier in Esenler. "Wir brauchen Europa nicht - Europa braucht uns!", sagt ein Mann, der sich schnell in Rage redet. "Seit 15, 20 Jahren führt uns Europa an der Nase herum, aber damit ist jetzt Schluss. Deutschland, Frankreich, Großbritannien - niemand hat zurzeit einen starken Anführer, aber wir hier in der Türkei haben einen und er heißt: Recep Tayyip Erdogan."

Konfrontation statt Kuschelkurs

Die Wut auf Europa kommt nicht von ungefähr. Vorbei sind die Zeiten, in denen Erdogan mit Engelszungen in Brüssel, Paris, Berlin um den EU-Beitritt warb. Der Weg der Türkei nach Europa sei "unwiderruflich". Sein Land habe sich "den westlichen Werten verschrieben", hatte der türkische Staatschef einmal versprochen. 2003 war das und Erdogan damals noch Ministerpräsident. Seitdem hat sich viel verändert in der Türkei - auch der Tonfall gegenüber Brüssel. Sollte die EU nicht bald weitere Beitrittskapitel eröffnen, sage man "auf Wiedersehen", drohte Erdogan kürzlich. Bis dahin habe er mit der EU "nichts zu diskutieren", die Türkei sei nicht der "Türsteher" Europas.

Und auch aus Brüssel ist inzwischen häufig die Forderung zu hören, die Beitrittsgespräche mit Ankara doch endlich zu beenden. De facto liegen die Verhandlungen schon seit Monaten auf Eis - wegen der Repressionen der türkischen Regierung gegen Staatsbedienstete, Medien und Oppositionelle - seit dem Putschversuch im Juli 2016, wegen Erdogans Ankündigung, möglicherweise die Todesstrafe wiedereinzuführen und wegen des Verfassungsreferendums, das Kritiker als Ende der türkischen Demokratie sehen. Wie schlimm steht es wirklich?

Nur noch 28 Prozent für die EU

"Die Beziehungen waren noch nie besonders kooperativ, es gab schon viele Krisen. Die aktuelle hängt zum Teil mit den innenpolitischen Problemen der Türkei zusammen, zum Teil aber auch mit den Problemen der EU", erklärt Alper Ecevit, der an der Istanbuler Bahçeşehir-Universität Politikwissenschaften unterrichtet. "Die harten Worte, die wir jetzt von beiden Seiten hören, sind Teil der Verhandlungen, das gehört quasi zur Strategie. Diese Krise lässt sich überwinden - aber nur, wenn der politische Wille da ist."

Und selbst dann dürfte eine Wiederannäherung nicht einfach werden. Inzwischen befürworten laut einer Eurobarometer-Umfrage von November 2016 nur noch 28 Prozent der Türkinnen und Türken den EU-Beitritt ihres Landes. Vor zehn Jahren waren es noch 54 Prozent. "Die Menschen hier in der Türkei waren immer schon skeptisch, was den Beitrittsprozess angeht", sagt Alper Ecevit, "aber in den vergangenen zehn Jahren hat die Zahl der EU-Befürworter drastisch abgenommen. Und auch die, die gerne rein wollen, glauben inzwischen nicht mehr dran, dass es irgendwann tatsächlich einmal so weit ist. Je älter die Leute sind, desto skeptischer sind sie, denn in den vergangenen Jahrzehnten haben sie kaum Fortschritte erlebt."

Keine Hoffnung mehr

1963 hat Brüssel der Türkei erstmals den Beitritt in Aussicht gestellt. Seit Oktober 2005 verhandelt Ankara offiziell um die EU-Mitgliedschaft. Von insgesamt 33 Kapiteln, den Verhandlungsthemen rund um den Beitritt, wurde bisher nur ein einziges abgeschlossen. Auch das Flüchtlingsabkommen sorgt immer wieder für Streit.

Türkei Stimmen aus Istanbul zu einem möglichen EU-Beitritt der Türkei
"Für die Türkei wäre ein Beitritt gut - aber zurzeit unmöglich", sagt dieser Mann im Istanbuler Viertel KadiköyBild: DW/J. Hahn

Der Frust über die EU sitzt tief - auch bei denen, die von Präsident Erdogan und seinem Kurs nichts halten. Im Stadtteil Kadiköy haben gut 80 Prozent der Wähler beim Referendum über Erdogans Verfassungsreform mit Nein gestimmt. Hier leben viele junge Menschen, Studenten, Künstler - das Viertel gilt als Hochburg der türkischen Opposition. Sieht man hier noch eine Zukunft in Europa? "Für uns wäre der Beitritt gut, aber für Europa nicht. Es gibt gerade zu viele Probleme, die Türkei hat ihre Chancen nicht genutzt", sagt ein Mann, der mit seiner Tochter durch die Fußgängerzone spaziert.

"Ich bin jetzt 44 Jahre alt und denke nicht, dass ich den EU-Beitritt noch erleben werde", sagt eine Frau mit kurzen dunklen Haaren. "Ich denke, Europa hat Angst vor uns - aber ich sage: Habt keine Angst!"