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Surrealistischer Klassiker: Der Würgeengel

Jochen Kürten
7. August 2017

Luis Buñuels Film aus dem Jahre 1962 ist ein Schlüsselwerk des spanisch-mexikanischen Regisseurs. Jetzt erscheint "Der Würgeengel“ als Blu-Ray-Disk. Ein zeitloses Meisterwerk von verblüffender Modernität.

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Filmstill aus Der Würgeengel mit Frau mit entsetztem Blick
Bild: Cargo-Records

Eine vornehme Abendgesellschaft trifft sich nach einem Opernbesuch in der Stadtvilla des Gastgebers. Die Dienerschaft verlässt bis auf eine Ausnahme während des Eintreffens der Gäste beinahe fluchtartig das Haus. Nach dem fürstlichen Abendessen werden Kaffee und weitere Getränke serviert. Dann geschieht das Unerklärliche: Die Gäste können das Haus nicht verlassen.

Fluch über der Villa: Keiner verlässt das Haus...

Ein Fluch ist offenbar über sie hereingebrochen. Scheinbar eingeschlossen von einer unsichtbaren Mauer, gelingt es keinem der Damen und Herren die Räumlichkeiten zu verlassen. Man bleibt über Nacht, streift sich die Abendgarderobe ab und legt sich auf den Teppich. Ein Paar schließt sich in einem Wandschrank ein. Ein älterer Herr erleidet einen Herzinfarkt. Doch auch dieser Notfall bringt die versammelte Gästeschaar nicht dazu, Hilfe von Außen zu holen.

Filmstill aus Der Würgeengel mit mehreren Darstellen bei einer Diskussion
Warum können wir das Haus nicht verlassen? Die Abendgesellschaft steht vor einem RätselBild: Cargo-Records

Auch vor der herrschaftlichen Villa stehen die Menschen vor einer unsichtbaren Wand. Polizei und Schaulustige, die sich vor dem Haus postiert haben, können das Gebäude nicht betreten. Erst kurz vor Ende der Filmerzählung löst sich der Spuk auf - nur um dann im endgültigen Finale seine Fortsetzung zu finden. In einer Kirche wiederholt sich das surreale Schauspiel. Das Kirchenschiff zu verlassen, ist der Gesellschaft aus rätselhaften Gründen nicht möglich.

Buñuels sperrte sich stets gegen allzu enge Interpretationen

Buñuels Film ist vielfach analysiert worden. Übrigens gegen den ausdrücklichen Willen des Meisters, der sich stets gegen eine allzu enge Interpretation seiner Werke aussprach. Auch beim "Würgeengel", wie Buñuel einmal anmerkte: "Die Hausherrin (im Film) hat auch noch einen (…) Gag mit einem Bären und zwei Schafen vorbereitet, über den man aber nichts Näheres erfährt", kommentierte der Regisseur eine Szene des Films, in dem - ohne jede nähere Erklärung - ein Bär die Szenerie betritt und ein paar Schafe die Treppe des Hauses hochlaufen. Was einige Kritiker, so Buñuel, "die überall Symbole entdecken wollten, nicht davon abgehalten hat, in dem Bären den Bolschewismus zu sehen, der der von ihren Widersprüchen gelähmten kapitalistischen Gesellschaft auflauert."

Luis Bunuel
Luis BuñuelBild: imago

"In meinen Filmen gibt es ganz sicher keinen Symbolismus, aber auch keine Psychoanalyse. Ich hasse die Psychoanalyse", meinte der 1900 im spanischen Calanda geborene Regisseur an anderer Stelle. Warum die Menschen in dem Haus wie paralysiert agieren und sich trotz größter innerer und äußerer Qualen lange nicht befreien können, bleibt bis zuletzt ungewiss.

"Die Aristokratie wird vorgeführt"

Buñuel selbst hat darauf keine endgültigen Antworten gegeben, auch nicht in seinen wunderbaren literarischen Erinnerungen "Mein letzter Seufzer". Natürlich haben viele Interpreten und Kenner des Buñuelschen Werks darauf hingewiesen, dass es dem Regisseur darum gegangen sei, die Beschränktheit einer bestimmten sozialen Klasse, nämlich die der Bourgeoisie, zu brandmarken. Klaus Eder schrieb in seiner Buñuel-Monografie 1975: "Vorgeführt wird, wie diese Aristokratie allmählich ihre Fassung, ihre Façon, ihre Maske verliert und auf ein nahezu animalisches Niveau herunterkommt."

Filmstill aus Der Würgeengel mit mehreren Darstellern
Männer und Frauen in "Der Würgeengel" - auch das sexuelle Begehren steigert sich während der FilmhandlungBild: Cargo-Records

All das ist nachvollziehbar. Doch der große Reiz (auch und gerade für den Zuschauer von heute) besteht darin, dass Buñuel uns ein "offenes" Kunstwerk hinterlassen hat. Einen Film, den man sich immer wieder anschauen kann und der gerade durch seine offene Form etwas Zeitloses beibehalten hat.

"Der Charme Buñuels (…) besteht darin, dass er uns diese Exegese nicht aufzwingt, dass er eher spielerisch mit ihr umgeht und uns, den Zuschauern, die Freiheit lässt, die politische Lektion ernst zu nehmen oder auch nicht", schrieb der Filmpublizist Klaus Kreimeier über Buñuels Film.

Ein durchgängiges Thema bei Buñuel

Filmstill aus Der Würgeengel mit zwei Frauen und einem älteren Herrn auf einem Sofa
Beschäftigungstherapie in der Villa - die Eingeschlossenen vertreiben sich die ZeitBild: Cargo-Records

Das letzte Wort über diesen so wunderlichen wie zeitlosen, schwer zugänglichen wie unterhaltsamen Film soll dem Regisseur selbst gehören: "Was ich in dem Film sehe, ist, dass eine Gruppe von Leuten nicht tun kann, was sie möchte: ein Zimmer verlassen - es ist die unerklärliche Unmöglichkeit, eine ganz einfache Lust zu befriedigen. Das gibt es oft in meinen Filmen. In 'L'âge d'Or' versucht ein Paar zusammenzukommen, und es gelingt ihm nicht. In 'Dieses obskure Objekt der Begierde' ist es das sexuelle Verlangen eines alternden Mannes, das nie Erfüllung findet. 'Archibaldo de la Cruz' versucht vergeblich zu töten. Die Personen im 'Diskreten Charme der Bourgeoisie' wollen unter allen Umständen zusammen essen und kommen nicht dazu."

"Der Würgeengel" ist jetzt beim Anbieter Cargo Records auf Blu-Ray erschienen. Fünf Jahre nach "Der Würgeengel", 1967, realisierte Buñuel seinen bis heute kommerziell erfolgreichsten Film, "Belle de Jour" mit Catherine Deneuve. Dieser Film, ebenso wie "Der Würgeengel" ein surrealistisches Meisterwerk, ist vom Verleiher Studiocanal jetzt zum 50-jährigen Jubiläum wieder ins Kino gebracht worden.

Studiocanal startet damit eine Reihe von Wiederaufführungen von Klassikern der Filmgeschichte auf großer Leinwand in restaurierter Fassung. Ein fast schon surreales Glück für alle Freunde des Autorenfilms.

Luis Bunuels Belle de Jour Filmstill mit  Catherine Deneuve
Zum Jubiläum wieder im Kino: "Belle de Jour" mit Catherine DeneuveBild: imago