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Suizid-Serie geht weiter

6. Oktober 2009

Erfolgszwang, mangelnde Anerkennung, Mobbing: Alltag für immer mehr Arbeitnehmer und so unerträglich, dass einige sich das Leben nehmen. Vor allem in Frankreich bringen sich immer wieder Menschen um.

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Füße eines Mannes über einer Autobahnbrücke
Selbstmord als letzter AuswegBild: dpa - Bildarchiv

Eine traurige Suizid-Bilanz: Mit über 16 Selbsttötungsversuchen auf 100.000 Menschen liegt Frankreich im westeuropäischen Vergleich an zweiter Stelle - gleich hinter Finnland. Immer wieder nehmen sich Angestellte des Telekommunikationskonzerns France Telecom das Leben. 24 Mal suchten Mitarbeiter innerhalb von 18 Monaten den Tod. Aber auch in anderen Unternehmen wächst der Druck auf die Arbeitnehmer - darüber reden wollen die wenigsten.

Psychologen sollen helfen

Um 17.00 Uhr ist Feierabend für die Angestellten des Atomkraftwerks Chinon. Ein Dutzend Busse fahren vor, um die Mitarbeiter nach Hause zu bringen. Auf die Frage nach dem Arbeitsklima in der Firma schütteln die Männer ablehnend den Kopf und gehen weiter. Schließlich bleibt ein Mann stehen, er arbeitet seit 20 Jahren in dem Kraftwerk: "Den Leuten hier geht es gar nicht gut. Die Arbeitsbedingungen haben sich permanent verschlechtert. Es gibt immer mehr Zwänge und Vorschriften. Früher hatten wir Chefs, die uns erklärt haben, was zu tun ist. Heute nennen sich die Vorgesetzten 'Manager'." Innerhalb von zwei Tagen könne man aber nicht zum Manager werden, dass müsse man erst lernen.

Pistole neben Abschiedsbrief (Foto: Bilderbox)
In Abschiedsbriefen wird der Frust deutlichBild: BilderBox

So wie jetzt das Unternehmen France Telecom durch die Selbstmordversuche für Schlagzeilen sorgt, stand vor zweieinhalb Jahren das Atomkraftwerk Chinon in der Öffentlichkeit. Drei Angestellte hatten sich damals das Leben genommen. Zur gleichen Zeit gab es auch bei den Automobilherstellern Renault und Peugeot eine Reihe von Selbstmorden. Mehrere Arbeitnehmer töteten sich am Arbeitsplatz, andere hinterließen Briefe, in denen sie ihren Arbeitgeber anklagten.

Seither wird das Problem in Frankreich wahrgenommen. Die Firmen fürchten um ihr Image. Catherine Delpirou ist Direktorin in der Personalabteilung des Stromkonzerns EDF, der das Atomkraftwerk Chinon betreibt. "Nach den Dramen von Chinon haben wir ein Observatorium eingerichtet, das die Lebensqualität bei der Arbeit untersuchen soll. Wir experimentieren mit einem Notruf-Telefon. Bei dem können die Leute anrufen und mit einem unabhängigen Psychologen sprechen", sagt er. Ein Ethik-Beauftragter solle sich zudem für alle Werte rund um den Respekt vor der Person stark machen.

Menschlichkeit fehlt

Dominique Huez ist ein Arzt im Atomkraftwerk Chinon. Er sieht in den Maßnahmen nicht mehr als ein Trostpflaster: "Ich habe für 20 Angestellte Alarm geschlagen, die systematisch gemobbt werden. Aber diese Spannungen räumt niemand aus. Und warum nicht? Weil Manager ernannt wurden, die bei uns abspecken sollen. Sie sollen Leute herausekeln." Und solange diese Aufgabe nicht erfüllt sei, ändere sich auch nichts.

Bei dem Autobauer Renault hat sich der Arbeitsalltag verändert. Alain Gueguen arbeitet seit 32 Jahren als Techniker bei dem Unternehmen und ist Gewerkschaftsvertreter. Im hochmodernen Technikzentrum der Firma stürzten sich 2006 und 2007 zwei Mitarbeiter in den Tod. "Hier wird dauernd umorganisiert. Deshalb gab es im Technikcenter in einem Jahr 6000 Umzüge. Früher waren wir Teil eines Teams. Da wussten wir, wenn es einem Kollegen schlecht ging. Die neue Arbeitsorganisation hat die sozialen Bindungen zerstört. Das Menschliche bei der Arbeit wie 'guten Tag' und 'auf Wiedersehen' zu sagen und nach den Kindern zu fragen - all das wurde kaputtgemacht."

Spezialabteilungen in Krankenhäusern

Schatten eines Frauenkopfes (Foto: Bilderbox)
Angst begleitet die MitarbeiterBild: Bilderbox

In 20 französischen Krankenhäusern wurden inzwischen Spezialabteilungen eingerichtet. Abeitnehmer in Not bekommen dort seelischen Beistand. Die Psychologin Marie Pezé hält ihre Sprechstunde in einer Klinik im Westen von Paris. Neuerdings hat sie immer mehr Patienten, die unter Angstpsychosen leiden oder am Rande des Selbstmords stehen.

Egal, um welche Berufssparte es sich handelt und um welches Niveau in der Hierarchie - die Psychologin hört immer wieder ein und dasselbe Thema heraus: "Die Leute beklagen sich darüber, dass sie nur Beleidigungen ernten. Wann endlich begreifen die Manager, dass ein Kompliment mehr bewirkt als ein entwürdigendes Evaluierungsgespräch?" Fürchterlich sei das französische Management. Seine Methoden würden an militärische Taktiken erinnern: "Die Leute sollen auf die Probe gestellt und durch Disziplin gebeugt werden." Es sei eine Frage der Zeit bis die Angestellten nicht mehr nur sich selbst Gewalt antun, sondern Sabotage betreiben oder Vorgesetzte angreifen.

Autor: Bettina Kaps
Redaktion: Heidi Engels