1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Gewalt in Behinderten-Heimen war Alltag

23. Juni 2016

Das Leben von behinderten Kindern und Jugendlichen in katholischen Heimen zwischen 1949 und 1975 war geprägt von Isolation, Unterordnung und Gewalt. Zu diesem Ergebnis kommt eine erste umfassende Studie zu dem Thema.

https://p.dw.com/p/1JBtA
Kind wehrt sich vor Gewalt (Foto: Imago - Imagebroker)
Bild: Imago/Imagebroker

"Weinen war nicht erlaubt. Und wenn doch, gab's auch dafür Schläge", erinnert sich die Bewohnerin eines katholischen Behindertenheims. Und ein anderer berichtet: "Da wurden wir in einen dunklen Raum gesperrt (...) das war für mich das Schlimmste, was es gab."

Erstmals geht eine Studie einem dunklen Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte nach: dem Alltag und dem Leid vermeintlicher oder tatsächlich geistig behinderter und psychisch kranker Kinder und Jugendlicher, die zwischen 1949 und 1975 in katholischen Heimen der Behindertenhilfe aufwuchsen.

Experten der Katholischen Hochschule Freiburg befragten unter Leitung der Sozialpädagogin Annerose Siebert mehr als 300 Personen, die in den Heimen Westdeutschlands aufwuchsen. Und hörten viele erschütternde Berichte. So gaben 70 Prozent an, körperliche Gewalt erduldet zu haben. Dabei reichte die Bandbreite von Ohrfeigen über Schläge mit Hand, Gürtel oder Rohrstock bis zum Herausreißen von Zehennägeln als Strafe für einen Fluchtversuch.

Jeder Dritte wurde Opfer sexueller Gewalt

Rund 60 Prozent berichteten von Erfahrungen, die die Studienmacher als psychische Gewalt einordnen: Erzieherinnen stellten Kinder wegen Bettnässens vor der Gruppe bloß oder sperrten ängstliche Kinder in dunkle Keller. Jugendliche wurden gezwungen, ihr Erbrochenes zu essen.

Peter Neher (Foto: picture-alliance/dpa/R. Jensen)
Caritas-Präsident Peter Neher kündigte an, aus den Studienbefunden Konsequenzen zu ziehenBild: picture-alliance/dpa/R. Jensen

Jeder Dritte der Befragten sprach über sexualisierte Gewalt: So ließ sich ein Einrichtungsleiter und Pfarrer im wöchentlichen Pflicht-Beichtgespräch ausführlich über "Verfehlungen gegen das Keuschheitsgebot" erzählen. Bei Gesundheitsuntersuchungen mussten sich Pubertierende die Geschlechtsorgane abtasten lassen. Eine Frau berichtete den Wissenschaftlern von Zwangssterilisationen.

Hinzu kommt, dass fast ein Viertel der Befragten angab, bis heute nicht zu wissen, warum er oder sie eigentlich in das Heim gebracht wurde. Häufig kam es zu Fehleinweisungen: Verhaltensauffällige oder schwer erziehbare Kinder wurden kurzerhand als psychisch krank oder geistig behindert eingestuft und zwangseingewiesen.

"Studie bestätigt Erfahrungen und Leiden"

Der Geschäftsführer der Caritaskommission der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Stücker-Brüning, sagte, die Studie sei ein wichtiger Schritt zur Rehabilitation der Betroffenen. Sie bestätige ihre Erfahrungen und ihr Leiden. Er begrüßte die Einigung von Bund und Ländern über die Stiftung "Anerkennung und Hilfe". Diese hatten sich in der vergangenen Woche darauf geeinigt, gemeinsam mit den Kirchen den neuen Fonds für Betroffene zu finanzieren. Ehemalige Heimkinder sollen eine pauschale Anerkennungssumme von 9.000 Euro erhalten. Für Rentenleistungen werden bis zu 5.000 Euro ausgezahlt.

Berechnungen zufolge leben noch rund 97.000 ehemalige Heimkinder in Deutschland, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe waren oder sind. Bis in die 1970er Jahre waren 95 Prozent der Heime in kirchlicher Hand. Rund 40 Prozent wurden von der katholischen Kirche und Ordensleuten geführt, 60 Prozent von evangelischen Trägern. Von der evangelischen Kirche gibt es noch keine derartige Studie.

Bitte um Vergebung

Caritas-Präsident Peter Neher bat die Betroffenen um Vergebung "für das Leid, das ihnen in Einrichtungen der Caritas wiedererfahren ist". Sein Verband werde alles tun, um "aus den bedrückenden Befunden der Studie" Konsequenzen für die fachliche und politische Arbeit zu ziehen.

Die Münsteraner Ordensfrau Katharina Kluitmann erklärte, die Orden seien "beschämt über das vielfache Leid, das Menschen, die besonderen Schutz gebraucht hätten, gerade dort - auch von Ordensleuten - angetan wurde". Neben Einzelnen, die ihre Macht eindeutig missbraucht hätten, habe es Strukturen der Überforderung gegeben, die zu Handlungen geführt hatten, "die auch den damaligen strafrechtlichen und pädagogischen Standards nicht genügt hätten", so Kluitmann, die im Vorstand der Deutschen Ordenskonferenz ist.

Für die Studie des Bundesverbands Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) befragten Freiburger Sozialwissenschaftler in den vergangenen drei Jahren ehemalige Bewohner von katholischen Einrichtungen der Behindertenhilfe. Die Interviewpartner wurden in leichter Sprache oder mit Hilfe von Gebärdendolmetschern befragt. Alle leben bis heute in einer katholischen Einrichtung.

rk/sti (epd/kna)