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Strukturwandel per Straßenbahn

Klaus Wermker11. Oktober 2012

17 km führt die Kulturlinie, die Straßenbahnlinie 107, durch das Ruhrgebiet. Vorbei an ehemaligen Zechen und neuen Kulturstätten. Die Haltestellen sind Schauplätze des Strukturwandels.

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Die Straßenbahn-Kulturlinie 107 in Essen Foto: EVAG Essener Verkehrbetriebe
Bild: EVAG Essener Verkehrbetriebe

Wir starten mit der Straßenbahnlinie 107 im Essener Norden, an der Stadtgrenze zu Gelsenkirchen.

Die gerade noch erkennbaren Schalter in der ehemaligen Lohnhalle der Schachtanlage 4/5/11 der Zeche Zollverein sind so tief angebracht, dass die Bergleute in gebeugter Haltung ihre Lohntüten entgegennehmen mussten. Heute ist die Lohnhalle das Herz von Triple Z, dem ZukunftsZentrum Zollverein, das alle Gebäude der alten Schachtanlage nutzt.

Triple Z - Von der Lohnhalle zum Gründerzentrum

Über 50 kleine und mittlere Unternehmen mit etwa 600 Beschäftigten machen das ökonomische Herz von Zollverein heute aus. Triple Z ist umgeben von Bergarbeitersiedlungen. Die älteste davon wurde 1860 gebaut. In der Hoch-Zeit der Zechen lebten von 8000 Bergleuten 7000 in Werkswohnungen. Damit wollte man Arbeitskräfte am Ort halten.

Ein Raum und sehr verschiedene Welten

Weiter mit der Linie 107 passieren wir, nach Süden fahrend , den Katernberger Markt. Ganz in der Nähe: die ehemalige Werksfürsorgestelle der Zeche. Die Fürsorgerinnen waren die einzigen Frauen auf Zollverein. Von ihnen gab es Rat und Hilfe bei Gesundheitsfragen, Kindererziehung, sozialen Problemen. Die Strassenbahn, mit der wir durch die Region fahren, verbindet Essen-Bredeney, einen der reichsten Stadtteile Deutschlands, mit Gelsenkirchen, einem Armenhaus. Die Verbindung dieser höchst unterschiedlichen Lebenswelten ist aber nur eine physische. Die Menschen hier leben zwar in einem Raum, aber in sehr unterschiedlichen Welten.

Die Zeche Zollverein in Essen Foto: Felix Rodenjohann
Zeche Zollverein: Früher Kohlenmine heute WeltkulturerbeBild: Fotolia

Es bleibt nur etwas Stahl und Chemie

Kurze Zeit später erreichen wir wieder die Zeche Zollverein, dieses Mal Schacht 12, heute Weltkulturerbe. In ihrer aktiven Zeit war sie die Grösste, mit einer Förderleistung von bis zu 12 000 Tonnen täglich. Sie war auch die architektonisch Schönste. Und ein verbotener Ort, zugänglich nur für die Beschäftigten. Heute besuchen sie Jahr für Jahr mehr als eine Million Touristen.

Der Bergbau, der für Essen 1986 zu Ende ging, beschäftigte Anfang der 1960er Jahre in der ganzen Region rund 400 000 Menschen. Heute sind es noch etwa 20 000 und mit dem Ende der Kohlewirtschaft, 2018, werden es noch etwa 1000 sein. Die werden sich dann mit der Verwaltung des Immobilienbesitzes beschäftigen. Von dem einstigen Riesen-Arbeitsgebiet Kohle, Stahl und Kohlechemie, das diese Landschaft geschaffen hat, bleiben etwas Stahl und Chemie. Auch deshalb ist die Arbeitslosigkeit nach wie vor hoch.

Kultur statt Kohle

Heute wird die Zeche Zollverein vor allem kulturwirtschaftlich genutzt. Das Ruhrmuseum ist hier angesiedelt, das Designzentrum NRW, in Kürze der Fachbereich Design der Folkwanghochschule mit etwa 600 Studierenden. Das ist der größtmögliche Kontrast zur früheren Zweckbestimmung der Zeche. Hier wurde Kohle gefördert, in harter, schmutziger, gefährlicher körperlicher Arbeit oder Maloche, wie die Bergleute sagen. Heute geht es um die Produktion von Zeichen, von Ideen.

Die orangefarbene Treppe des Ruhrmuseums auf Zeche Zollverein Foto Per Henriksen (DW)
Charakteristikum: Die orange Treppe des RuhrmuseumsBild: DW/ P.Henriksen

Die ehemaligen Bergleute haben nach der Schließung 1986 die geplante neue Nutzung als Entwertung ihrer alten Arbeit empfunden. Es dauerte Jahre, bis sie sich wieder annäherten und im Denkmal Welterbe Zollverein eine Würdigung ihrer Arbeit sahen. Heute finden sich etliche ehemalige Bergleute unter den Führern, die Besuchern die Anlage erklären.

Vom Proletariat zur akademischen Mittelschicht

Die Linie 107 führt uns weiter nach Süden und erreicht im Norden der Essener Innenstadt die Universität Duisburg-Essen, eine der vielen neuen Hochschulen in der Region, die bis zur ersten Hochschulgründung in Bochum 1962 keine Universitäten hatte. Heute gibt es rund 160 000 Studenten in der Region. Damit begann die Produktion einer akademischen Mittelschicht, die Schaffung eines neuen Millieus in einem Raum, der zuvor dominant proletarisch geprägt war und regiert wurde von einem Bündnis von Montankapital und organisierter Arbeiterbewegung aus Gewerkschaft und politischer Partei.

In den großen Zentren des Ruhrgebiets arbeiten heute 70-80% der Beschäftigten im Dienstleistungsbereich. Dabei ist der Anteil der Menschen mit höchster beruflicher Qualifikation, also einem Universitäts- oder Fachhochschulabschluss immer noch deutlich niedriger als in anderen großstädtischen Ballungssräumen.

Wandel durch Kultur

Wir unterfahren das Rathaus der Stadt Essen und kurz danach die Autobahn A 40, von Sozialforschern auch Sozialäquator der Region genannt, weil er den armen Norden vom wohlhabenden Süden der Stadt trennt. Eine grobe, aber nicht falsche Bewertung.

Kurz danach erreichen wir die Station Saalbau. Über uns zwei strahlende Kulturorte: das Aalto-Theater, der einziger Opern-Neubau einer deutschen Stadt nach dem Krieg, in Betrieb genommen 1988. Und der Saalbau, als städtisches Konzerthaus, 2004 eröffnet. „Kultur durch Wandel, Wandel durch Kultur“ war das Motto der Kulturhauptstadt Europas 2010, für das Essen als „Bannerträger" für die Region stand. Damit gewann das Ruhrgebiet ein neues Image. Aber auch jenseits der Hochkultur entstehen mehr und mehr kreative Räume in den Stadtteilen.

Aalto Theater Essen Foto: Thomas Robbin (DW-Archiv)
Aalto Theater Essen: der einzige Opern-Neubau nach dem KriegBild: Creative Commons/Thomas Robbin

Wenig später erreichen wir die städtebaulich reizvollen Reste des „Altenhof1", einer Siedlung für Invaliden und Ruheständler der Firma Krupp, deren Beschäftigte sich stolz „Kruppianer“ nannten. Der größte Teil der Siedlung wurde abgerissen und mit höherpreisigen Stadtvillen bebaut. Von hier bis zum Krupp-Krankenhaus sind es nur wenige Meter und auch die Villa Hügel, Wohnsitz der Familie Krupp, mit mit ihren 269 Zimmern in einem 28 Hektar umfassenden Park, heute Museum und Ausstellungsort, ist schnell erreicht.

Hier endet die Kulturlinie 107. Weitere Schauplätze des Strukturwandels erreicht man über andere Wege.