1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Streiken à la française

Das Gespräch führte Irène Bluche9. April 2006

Stehen die aktuellen Proteste in Frankreich in einer langen Tradition oder haben sie eine neue Qualität erreicht? Der französische Historiker Stéphane Sirot spricht mit DW-WORLD über die französische Art zu streiken.

https://p.dw.com/p/8Ehh
Jugendliche protestieren in Frankreich.Bild: AP

DW-WORLD: Was ist das Besondere an den aktuellen Protesten?

Stéphane Sirot: Die Bewegung, die wir zurzeit beobachten können, gehört zwar zu einer Tradition des Aufstands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In Frankreich hatten wir regelmäßig große Jugendbewegungen: 1968, 1986 und nun 2006. Es gab auch immer heftige Wellen des Protests von Seiten der Arbeitnehmer. Doch vor einem Monat noch hätte wohl niemand vermutet, dass die Situation auf solch radikale Weise eskalieren würde. Die heutige Bewegung ist darin einzigartig, dass sie eine Symbiose geschaffen hat, zwischen Schülern, Studenten und Arbeitnehmern. Es gibt eine regelrechte Verbindung zwischen den erwachsenen Arbeitnehmern und ihren Kindern, den Studenten und Gymnasiasten. Dies ist in seiner Intensität sehr außergewöhnlich. Und diese neue Bewegung hat zum ersten Mal in Frankreich, wenn nicht sogar auch in Europa, als zentrales Thema die Ungewissheit der Arbeitswelt und des Arbeitnehmers.

Hat sich die Haltung des Staats gegenüber Streiks und Demonstrationen verändert?

In den letzten drei bis vier Jahren, der zweiten Amtszeit von Präsident Chirac, haben wir eine neue Entwicklung erlebt: die Ablehnung der Regierung, in einen Dialog mit den sozialen Organisationen zu treten. In Frankreich ist es Tradition, dass die großen Aktionstage Verhandlungen auslösen. Doch in den letzten vier Jahren hat die Regierung sich darauf versteift, jegliche Diskussion zurückzuweisen. Diese Haltung hat die Beziehungen zu den sozialen Bewegungen in Frankreich gestört und zur Eskalation der aktuellen Proteste beigetragen.

Welchen Einfluss haben die aktuellen Entwicklungen auf die französischen Gewerkschaftsbewegungen?

Heutzutage haben wir eine Gewerkschaftsbewegung, die zum einen als deutliche Gegenmacht zur Regierung da steht und zum anderen immer reformwilliger wird. Es kommt auch immer mehr zu Annäherungen zwischen den etablierten Gewerkschaften und den kleineren gewerkschaftlichen Organisationen. Hinzu kommt, dass sich die französischen Gewerkschaften in eine europäische Gewerkschaftsbewegung integrieren. Auch wenn die Gewerkschaften innerhalb Frankreichs differieren, so haben sie doch dieselben Strukturen wie die anderen europäischen Organisationen. Die Anwesenheit des Generalsekretärs des Europäischen Gewerkschaftsbundes John Monks bei den aktuellen Demonstrationen in Paris hat gezeigt, dass die Gewerkschaften dabei sind, nationale Grenzen zu überschreiten und sich mit anderen Ländern zu solidarisieren. Dieses neue Phänomen kann man in den aktuellen Bewegungen entdecken.

Lesen Sie im zweiten Teil warum die Franzosen eigentlich so gerne streiken.

Wie hat sich das Streikverhalten in Frankreich entwickelt?

Es gibt beim Streiken eine Besonderheit, die aus den Zeiten der Französischen Revolution stammt. Dieses besondere System beruht auf zwei Achsen. Die erste ist die Existenz eines direkten Dialogs zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Die zweite Achse sind die sozialen Beziehungen, die ein Mittel zur Konfliktregulierung darstellen. Vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist ein System von gesellschaftlichen Beziehungen entstanden, in denen das Mittel des Streiks angewandt wurde um Verhandlungen zu bewirken oder zu beschleunigen. Doch im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern gilt in Frankreich nicht die Reihenfolge "erst die Verhandlungen, dann die Handlung", sondern das Gegenteil. Dies ist bis heute so geblieben.

Wie erklären Sie sich, dass den Franzosen so eine große Freude am Streiken nachgesagt wird?

Statistisch befindet sich Frankreich im oberen Mittelfeld, die nordwesteuropäischen Länder streiken tatsächlich weniger, doch Länder wie Italien oder Griechenland übertreffen Frankreich durchaus in ihrer Bereitschaft zu streiken. Das Klischee entspricht also nur zum Teil der Wahrheit, aber es ist wahr, dass die Franzosen einen gewissen Geschmack am radikalen Protest gefunden haben. Das schnelle Streikbedürfnis der Franzosen ist vermutlich in der Tradition des direkten Dialogs und damit auch der direkten Konfrontation zwischen Staat und Bürger begründet. Die Freude am Streiken liegt aber auch an den sozialen Aspekten, wie wir sie bei den jetzigen Protesten beobachten können: die Mischung der Generationen, die miteinander sprechen, die miteinander demonstrieren. Es ist sozusagen die Möglichkeit, soziale Bande zu knüpfen "à la française".

Der französische Historiker Stéphane Sirot ist spezialisiert auf die Geschichte des Streiks und der Gewerkschaftsbewegungen in Frankreich.