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Aussichten auf Verurteilung "verschwindend gering"

Christoph Hasselbach6. Januar 2016

Das Strafrecht bietet ausreichend Möglichkeiten gegen die Vorkommnisse von Köln. Doch man kann die Täter kaum überführen, meint der Strafrechtsexperte Nikolaos Gazeas.

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Bücher: Strafprozessordnung und Strafgesetzbuch (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/P. Seeger

DW: Herr Gazeas, es scheint schwierig zu sein, Tatverdächtige zu ermitteln, die an den Übergriffen am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht beteiligt gewesen sein könnten. Wenn man noch nicht einmal die Täter kennt, dürften die Aussichten, sie dingfest zu machen, praktisch bei Null liegen, oder?

Gazeas: Das ist in der Tat so. Die Erfolgsaussichten, dass wegen dieser Vorfälle auch nur einer der Täter verurteilt wird, sind verschwindend gering.

Was muss bei Fällen von so massiver sexueller Zudringlichkeit, in vielen Fällen noch in Verbindung mit Diebstahl oder Raub, für eine Strafverfolgung vorliegen?

Hier muss man unterscheiden: Für die Strafverfolgung, also die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, braucht man nicht viel. Dafür genügt ein sogenannter Anfangsverdacht. Das bedeutet, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat vorliegen müssen. Das würden Staatsanwaltschaft und Polizei hier zum Beispiel schon dann vermutlich annehmen, wenn festgestellt wird, dass eine dieser Personen in der fraglichen Nacht am Tatort war. Dann könnte ein Ermittlungsverfahren gegen diese Person eingeleitet werden. Auf einem ganz anderen Blatt steht aber die Frage, was man braucht, um jemanden einer Tat auch zu überführen und zu verurteilen. Einem Täter muss nämlich seine persönliche Schuld nachgewiesen werden. Das ist gerade bei Straftaten, die aus Gruppen heraus begangen werden, im Allgemeinen schon problematisch, im Falle der Silvesternacht ist es besonders problematisch, weil am Kölner Hauptbahnhof so chaotische Umstände herrschten.

Sollte dennoch eine konkrete Person angeklagt werden, wie ist dann der Ablauf?

Dieser Person müsste dann die Begehung einer ganz konkreten Tat nachgewiesen werden, also zum Beispiel ein konkreter Diebstahl oder sexuelle Handlungen an "Frau Müller". Wenn der Angeklagte kein Geständnis ablegt, muss man ihn der Tat mit anderen Beweismitteln überführen. Als Beweismittel würden dann in erster Linie neben möglichen Videoaufzeichnungen vor allem Zeugen dienen, vor allem die betroffene Frau, aber vielleicht auch andere Personen, die die Tat gesehen haben. Diese müssen vor Gericht dann glaubhaft bezeugen, dass es der konkrete Angeklagte - und nicht etwa ein anderer - gewesen ist. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass nicht nur die Täter in dieser Silvesternacht offenbar stark alkoholisiert und dadurch weitgehend enthemmt waren, sondern auch das eine oder andere Opfer und potenzielle Zeugen alkoholisiert gewesen sind. Die Aussicht auf eine ausreichend genaue Erinnerung an eine ganz konkrete Person schwindet damit noch mehr. Sobald Zweifel bestehen, ob der Angeklagte es tatsächlich auch gewesen ist, wird und darf ein Richter den Angeklagten nicht für schuldig sprechen. Wenn am Ende einer solchen Beweisaufnahme nach richterlicher Überzeugung nicht mit ausreichender Sicherheit gesagt werden kann, ob es der Angeklagte gewesen ist, greift in unserem Rechtsstaat der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. Der Angeklagte ist dann zwingend freigesprochen.

Nikolaos Gazeas - Foto: "Tsambikakis & Partner Rechtsanwälte
Nikolaos Gazeas: "Das deutsche Strafrecht reicht aus"Bild: Tsambikakis & Partner Rechtsanwälte

Ist das den Opfern gegenüber gerecht?

So ernüchternd dieses Ergebnis bei den fürchterlichen Ereignissen in der Silvesternacht auch ist - und so enttäuschend für die Opfer: Es ist und bleibt richtig, dass ein Angeklagter bei Zweifeln freizusprechen ist - einerlei, wie der Vorwurf lautet. Diesen ehernen fundamentalen Grundsatz eines Rechtsstaats dürfen wir auch nicht in Fällen wie dem vorliegenden durchbrechen. Gerade in solchen Fällen muss sich der Rechtsstaat behaupten und nicht der Versuchung erliegen, von seinen eigenen Prinzipien abzuweichen.

Wir haben es bei den mutmaßlichen Tätern offenbar mit Personen mit Migrationshintergrund zu tun, seien es anerkannte Flüchtlinge, Asylbewerber, Geduldete oder auch schon lange in Deutschland lebende Personen, zum Teil vielleicht mit deutscher Staatsangehörigkeit. Was hat der Status im Einzelfall mit der Frage einer Strafverfolgung oder Verurteilung zu tun?

Mit der Frage der Strafverfolgung oder Verurteilung direkt hat dieser Status unmittelbar nichts zu tun. Vor dem Gesetz sind insoweit alle Menschen gleich. Jeder erfährt in strafrechtlicher Hinsicht dieselbe Behandlung. Der Aufenthalts- oder ausländerrechtliche Status würde erst in einem zweiten Schritt relevant werden, wenn nämlich eine Person nicht nur identifiziert, sondern auch rechtskräftig verurteilt wird. Dann können möglicherweise an eine Verurteilung ausländerrechtliche Folgen geknüpft werden. Bei schweren Straftaten kann eine Person dann auch ausgewiesen werden.

Bei welchen Gruppen ist das möglich?

Ob überhaupt Flüchtlinge unter den Tätern sind, ist mit einem großen Fragezeichen zu versehen; es ist untunlich, dies ohne gesicherte Erkenntnisse zu behaupten. Rein rechtlich wäre es so: Wären Flüchtlinge betroffen, die Asyl bei uns genießen, bei denen man weiß, dass ihnen bei einer Abschiebung in ihrem Heimatland Schlimmes und Inhumanes wie etwa Verfolgung droht, würde man sie in der Regel nicht, jedenfalls nicht ohne Weiteres abschieben können. Unser Grundgesetz und auch das Völkerrecht stehen dem dann entgegen.

Sehen Sie gesetzlichen Änderungsbedarf nach den Kölner Vorkommnissen?

Nein. Das deutsche Strafrecht schützt ausreichend vor solchen Taten. Die Straftaten, um die es hier geht, sehen schon erhebliche Freiheitsstrafen vor. Das gilt sowohl für einen möglicherweise qualifizierten Diebstahl und Raub als auch für die sexuellen Handlungen. Bei den Sexualdelikten haben wir allerdings das Problem, dass zum Beispiel Grapschereien am Busen oder Po oder unter dem Rock nicht ohne Weiteres als Sexualdelikte strafbar sind. Das Gesetz verlangt hier sexuelle Handlungen von einiger Erheblichkeit. Wann diese erreicht ist, ist eine Wertungsfrage und muss für jeden einzelnen Fall individuell beantworten werden. Die Rechtsprechung hat auf diesem Gebiet sehr unterschiedliche Entscheidungen getroffen. Bei den Kölner Vorfällen - es gab ja offenbar zum Teil massive Angriffe - dürfte die Erheblichkeitsschwelle indes in meinen Augen jedenfalls in einigen Fällen überschritten sein. Da würden dann nicht unerhebliche Freiheitsstrafen drohen. Den Tätern würden also erhebliche Strafen drohen, wenn man ihrer habhaft wird und ihnen die Taten nachweisen kann. Nur ist die Aussicht darauf - leider - verschwindend gering. Man sollte von der Justiz in strafrechtlicher Hinsicht daher in diesem Fall nicht zu viel erwarten, um nicht enttäuscht zu werden.

Nikolaos Gazeas ist Rechtsanwalt und Strafrechtler in Köln. Seine Expertise im Strafrecht gibt er an der Universität zu Köln in der Lehre weiter.

Das Gespräch führte Christoph Hasselbach.