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Stockton in Not

Anne Allmeling, Anne Raith, Stockton, CA 17. Januar 2013

In Stockton zeigt sich das ganze Ausmaß der Finanz- und Schuldenkrise: Die kalifornische Stadt ist bankrott, Tausende sind auf Nahrungsmittelspenden angewiesen, die Mordrate steigt von Woche zu Woche.

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Einwohner von Stockton stehen Schlange, um Lebensmittel von der Emergency Food Bank entgegen zu nehmen (Foto: Anne Allmeling/DW)
Bild: DW/A.Allmeling

Es dämmert. Diana Foster und ihre Freundin sind auf dem Weg nach Hause. Nach Einbruch der Dunkelheit möchten die beiden Frauen nicht mehr unterwegs sein. Denn Stockton gehört mittlerweile zu den zehn gefährlichsten Städten der USA. Die Mordrate ist so hoch wie nie: Allein im vergangenen Jahr wurden in der 300.000-Einwohner-Stadt Stockton 71 Menschen umgebracht. Selbst im Victory-Park, mitten in einem wohlhabenden Wohnviertel, ist vor kurzem ein Rentner erschossen worden. "Es wird immer schlimmer", sagt Diana Foster. "Ich habe das Gefühl, dass es für meinen Sohn in Afghanistan sicherer ist als hier in seiner Heimatstadt."

Joseph Silva kennt die Sorgen der Bürger. Auf seinem Schreibtisch stapelt sich die Arbeit. Der Polizist weiß, dass die Angst in Stockton wächst. Dass mehr Polizisten auf den Straßen helfen würden. Doch er weiß auch, dass das nicht geht. Die Stadt ist pleite. Mehr Sicherheit kann sie sich einfach nicht leisten."Seit wir sparen müssen, haben viele Polizisten gekündigt, weil die Gehälter gekürzt wurden - um bis zu 30 Prozent innerhalb von anderthalb Jahren", sagt Joseph Silva. "Viele Kollegen haben das finanziell nicht verkraftet. Sie mussten sich woanders einen Job suchen, um ihre Familien ernähren zu können."

Polizeiwagen in Stockton (Foto: Anne Allmeling/DW)
Gehaltskürzungen um 30 Prozent: Polizei von Stockton, KalifornienBild: DW/A.Allmeling

"Wir sind durch die Hölle gegangen"

Zu wenige Polizisten und mangelnde Sicherheit - das sind die drängendsten Probleme der Stadt. Aber es sind nur zwei von vielen. In Stockton zeigt sich das ganze Außmaß der Finanz- und Schuldenkrise. Firmeninsolvenzen, steigende Arbeitslosigkeit, wachsende Armut und Zwangsversteigerungen gab es in vielen amerikanischen Städten. Doch kaum eine Stadt hat es so hart getroffen wie das einst boomende Stockton.

"Wir sind in den vergangenen vier Jahren durch die Hölle gegangen", sagt Ann Johnston. Die ehemalige Bürgermeisterin wirkt, als könne sie sich immer noch nicht recht erklären, was eigentlich passiert ist. Sie ist schon lange in der Politik, hat die Aufbruchsstimmung in Stockton als Stadträtin miterlebt: als um die Jahrtausendwende tausende neue Einfamilienhäuser gebaut, neue Geschäfte eröffnet wurden; als die Steuereinnahmen sprudelten und die Gehälter der städtischen Angestellten Jahr für Jahr stiegen.

Bankrotterklärung für die Stadt"Als das Geld noch geflossen ist, hat die Stadt entschieden, prestigereiche Bauprojekte anzugehen", erzählt die 70-Jährige. "Eine große Arena, ein Stadion, Gemeindezentren - lauter Sachen, die die Stadt attraktiver machen sollten." Doch die Rechnung ging nicht auf: Die Arena, die ein Aushängeschild werden sollte, ist heute das Symbol einer Stadt, die über ihre Verhälnisse gelebt hat, statt Rücklagen zu bilden. Die noch auf grenzenlosen Wachstum gesetzt hat, als der Niedergang bereits unaufhaltsam war.

Die Arena im Zentrum von Stockton (Foto: Anne Allmeling/DW)
Vom Aushängeschild zum Zeichen des Niedergangs: die Stockton ArenaBild: DW/A.Allmeling

Als Ann Johnston Anfang 2009 Bürgermeisterin wird, sind die Anzeichen der US-Finanz- und Schuldenkrise schon nicht mehr zu übersehen. Die Immobilienblase ist da bereits geplatzt. In keiner anderen Stadt kommt es in den Monaten danach zu so vielen Zwangsversteigerungen. Die Finanzkrise trifft Stockton mit voller Wucht. "Wir wussten, wie es ist, wenn die Wirtschaft schwächelt", erzählt Ann Johnston. "Aber wenn man mal ein paar Sachen hinausgezögert hat, war das nach ein, zwei Jahren überstanden. Aber dieses Mal war klar: Es wird nicht besser. Also mussten wir ein paar wirklich harte Entscheidungen treffen."

In den folgenden Monaten kürzt die Stadt, wo sie nur kann. Entlässt Feuerwehrleute, Polizisten und Stadtangestellte. Kürzt denen, die bleiben, das Gehalt, die Beihilfen zur Gesundheitsversorgung und die Rentenansprüche. Und bekommt am Ende die Finanzen doch nicht in den Griff. Schließlich trifft Bürgermeisterin Ann Johnston eine Entscheidung: Sie erklärt Stockton im Juni 2012 für insolvent. Jetzt muss ein Gericht entscheiden, ob die Stadt tatsächlich bankrott ist.

Verschlossener Eingang eines Geschäftshauses in Stockton (Foto: Anne Allmeling/DW)
Viele Geschäfte mussten wegen der Krise schliessen - die Stadt ist insolventBild: DW/A.Allmeling

Steuererhöhung als Ausweg?

"Für mich ist das der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung", sagt Ann Johnston. Dieser Schritt hat sie das Amt gekostet: Im vergangenen November wurde sie abgewählt. Ihr Gegenkandidat Anthony Silva hatte mit dem Thema Sicherheit Wahlkampf gemacht. Der 38-Jährige alleinerziehende Vater ist in Stockton aufgewachsen und glaubt an das Potenzial der Stadt. Er will wieder mehr Polizisten einstellen - und in der bankrotten Stadt die Steuern erhöhen.

"Die Leute sind bereit für ihren Schutz zu zahlen", sagt er. "Sie sind bereit, alles dafür zu tun, dass die Stadt wieder sicherer wird und wir uns nicht mehr schämen müssen zu sagen: Wir kommen aus Stockton." Ob die Leute tatsächlich bereit sind, für ihre Sicherheit zu zahlen, wird sich noch zeigen. Bis dahin setzt Officer Joseph Silva bei seiner Ermittlungsarbeit auf die Hilfe der Bevölkerung - via Facebook. Dass sich in Stockton tatsächlich etwas ändern könnte, sieht er eher in ferner Zukunft. "Ich hoffe, dass wir in fünf Jahren die finanzielle Misere der Vergangenheit langsam hinter uns gelassen haben", sagt er. "Dann haben wir in zehn Jahren vielleicht wieder mehr Jobs - und mehr Polizisten auf den Straßen."