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Hier klingeln - dann eintreten

Juliane Streich27. Oktober 2012

Bei der Stadtkarawane in Leipzig besichtigt man keine Sehenswürdigkeiten, sondern unbekannte Menschen. Und lernt so die Stadt jenseits der bekannten Punkte kennen, vor allem aber die Lebensläufe ihrer Bewohner.

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Diskussionen in der Straßenbahn. (Foto: Lukas Becker)
Bild: Lukas Becker

Plötzlich fängt es an zu regnen. Elfriede Lange spannt ihren bunten Regenschirm auf, unter den sich Menschen quetschen, die vor zwei Stunden noch Fremde waren. Auf der Terrasse der 67-Jährigen lernten sie sich gerade bei Schmalzbroten kennen, bevor die Gastgeberin einen Spaziergang vorschlug zur Etzoldschen Sandgrube, die 1968 auf Anweisung der DDR-Regierung auf den Ort der gesprengten Leipziger Paulinum-Kirche entstand. "An dem Tag bin ich damals extra früher von der Arbeit gegangen, um mir das anzuschauen", erzählt sie ihren Zuhörern, deren Rücken immer nasser werden. Keiner von ihnen war schon mal hier in Engelsdorf, kaum einer ist älter als dreißig Jahre alt, alle kennen nur den noch nicht eröffneten Neubau der Kirche.

Elfriede Lange ist eine von vielen Gastgebern der Stadtkarawane, einer Stadtrundfahrt der ungewöhnlicheren Art, bei der eine kleine Gruppe mit der Straßenbahn durch Leipzig fährt und bei fremden Leuten klingelt, deren Name und Adresse auf einem Zettel stehen. Diesen Laufzettel stellen die Mitarbeiter des Stadtkarawane-Vereins zusammen.

Mittlerweile läuft das Projekt von allein

Die Teilnehmer der Stadtkarawane in Leipzig unterhalten sich auf der Terrasse von Elfriede Lange (Foto: Lukas Becker)
Die Schmalzbrote sind alle: Gespräch auf Elfriede Langes TerrasseBild: Lukas Becker

Die Teilnehmer haben vorher keine Ahnung, wer ihnen die Tür öffnen wird. "Anfangs haben wir gezielt nach spannenden Leuten gesucht und nur langsam welche gefunden", erklärt Mitorganisatorin Sophie Rathke. Aber inzwischen sei das Projekt ein Selbstläufer, immer wieder bekommen sie Vorschläge für interessante Gastgeber, die sie gerne annehmen.

Diesmal haben sich sieben Menschen gemeinsam auf den Weg gemacht. Tobia ist schon zum zweiten Mal dabei, Franziska kommt aus Leipzig, wollte die Stadt mal von einer anderen Seite erkunden. Die anderen sind neu nach Leipzig gezogen und studieren hier. Manchmal sind auch Touristen dabei, aber vielmehr machen Einwohner mit, die andere Aspekte ihrer Stadt kennenlernen wollen, Gewandhaus und Völkerschlachtdenkmal schon besucht haben.

Geschichten aus der Heimat

Nach dem Kuscheln unter Elfriedes Regenschirm besucht die illustre Reisegruppe als zweite Station einen gewissen Jerry, dessen Nachname nicht am Klingelschild steht, und der sich als Gründer und Besitzer vom afrikanischen Restaurant und Club "Basamo" vorstellt. Der Mosambikaner tischt statt afrikanisches Essen Geschichten aus seiner Heimat auf. Jerry erzählt von Armut und hoher Kindersterblichkeit und vor allem seine eigene Geschichte. Wie er in den Neunzigern hier ankam, wie "drei Männer, ein Hund und ein Auto" zusammen den Aufbau des Basamo voranbrachten, weil er selbst keinen vernünftigen Job fand, da potenzielle Arbeitgeber immer dachten, er rauche Marihuana. Ein Verdacht, den er vor seinen Gästen zerstreut und auf seine Dreadlocks zurückführt.Doch den Part des Entertainers übernehmen bei dieser Stadtkarawane nicht nur die Gastgeber, sondern auch die Mitreisenden. Dort trifft linke Meinung auf konservative Weltanschauung, Weltverbesserungsidee auf abgebrühten Statistiker. Doch durch gemeinsames Durch-die-Stadt-Fahren, durch Sich-Verlaufen und die Frage, wo man denn jetzt etwas zu essen her bekomme, wird der Umgang von Stunde zu Stunde freundschaftlicher, die Gespräche immer persönlicher. Einen Reiseleiter gibt es nicht, doch irgendjemand schaut immer auf die Uhr, mahnt zum Aufbruch oder weiß, wo die nächste Straßenbahnhaltestelle ist.

Jerry erzählt im Biergarten von seiner Heimat (Foto: Lukas Becker)
Geschichten im Biergarten: Jerry erzählt von seiner HeimatBild: Lukas Becker

Besichtigung von Lebensentwürfen

Die Idee zu diesem Stadtrundgang, der hinter die Fenster und Türen Leipzigs guckt, stammt aus den Niederlanden. "Dort gibt es eine ähnliche Tour. Aber eher um die Wirtschaft des Ortes anzukurbeln", erklärt Rathke. Sie und ihre acht Mitstreiter arbeiten dagegen ehrenamtlich, wollen einfach Menschen zusammenbringen, ihren Blick öffnen - nicht nur auf die Stadt und ihre Bewohner, auch auf Lebensentwürfe, die einem sonst verborgen bleiben. Diese Idee fand auch die EU gut und förderte sie in der Startphase. Inzwischen muss sich der Verein selbst finanzieren, eine Tour kostet jeden Teilnehmer zehn bis zwanzig Euro, das Geld wird in die Organisation neuer Rundgänge gesteckt.

Nachdem die Tour schon an den östlichen Stadtrand und ins Zentrum führte, liegt die letzte Station im Szenebezirk Plagwitz. Aber der dritte Gastgeber wartet nicht in einer Galerie oder einer zum Loft umgebauten Fabrik, sondern in der Liebfrauenkirche. Pfarrer Michael öffnet. Während draußen die Hochzeitsglocken läuten, erklärt der in Jeans und Hemd gekleidete Pfarrer, dass am Wochenende am meisten los sei, auch heute wird den ganzen Tag geheiratet. "Was wollt ihr denn sonst so wissen?" fragt er. Und schon sprudeln die Fragen: Wie läuft das mit dem Zölibat? Darf er Alkohol trinken? Was ist, wenn er besoffen doch mit einer Frau schläft? Pfarrer Michael nimmt's locker, antwortet brav und souverän, er hat Erfahrung in der Jugendarbeit, die Fragen überraschen ihn nicht mehr. Nachdem alle wissen, dass auch Priester nur Menschen sind, und manch ein Gast selbst erzählt hat, wie er es mit der Religion hält, bleibt zwischen zwei Hochzeiten noch Zeit, sich einen Beichtstuhl von innen anzuschauen. Dann fahren alle im Sonnenschein und der Straßenbahn nach Hause. In ihr eigenes.