1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Späte Schilderung einer grausamen Tat

Bernd Gräßler1. August 2015

Die Militärs, die 1986 in Santiago de Chile zwei Jugendliche mit Benzin übergossen und anzündeten, können angeklagt werden. Ein Zeuge hat sich gemeldet. US-Dokumente enthüllen, wie das Pinochet-Regime die Tat vertuschte.

https://p.dw.com/p/1G86l
Eine Frau berührt das Foto des 1986 ermordeten Rodrigo Rojas - Foto: Ivan Alvarado (Reuters)
Bild: Reuters/I. Alvarado

In fünf Fernschreiben informiert die US-Botschaft in Santiago de Chile im Sommer 1986 das Außenministerium in Washington über das, was sich am 2. Juli jenes Jahres im Zentrum der chilenischen Hauptstadt abgespielt hat: Man registriert einen der ersten landesweiten Protesttage gegen die Pinochet-Diktatur.

Carmen Gloria Quintana - Foto: Mario Ruiz (EPA)
Opfer Quintana: Hoffnung auf GerechtigkeitBild: picture-alliance/dpa/M. Ruiz

An diesem Tag vor 29 Jahren stoppt eine Militärpatrouille den Fotografen Rodrigo Rojas de Negri, 19, und die Studentin Carmen Gloria Quintana, 18, gegen 7 Uhr morgens in der Calle Hernán Yungue, in der Nähe des Hauptbahnhofs. Die Soldaten schlagen auf die jungen Leute ein, kippen aus einem Kanister Benzin über sie. Wenig später stehen beide in Flammen. Die Soldaten wickeln sie in Decken, laden sie auf einen Lkw und werfen sie in einen Graben im Norden Santiagos. Passanten sorgen dafür, dass beide ins Unfallkrankenhaus kommen, wo Rodrigo Rojas vier Tage später stirbt. Carmen Quintana überlebt wie durch ein Wunder, obwohl ihre Haut zum großen Teil verbrannt ist.

Pinochet ließ Zeugen einschüchtern

Der Fall, der bereits seinerzeit großes Entsetzen auslöste, bewegt Chile erneut. Zwölf Militärs sind dieser Tage als mutmaßliche Täter verhaftet worden. Nun machen auch #link:http://nsarchive.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB523-Los-Quemados-Chiles-Pinochet-Covered-up-Human-Rights-Atrocity/:vertrauliche Berichte von US-Diplomaten# Schlagzeilen, die vom National Security Archive der George-Washington University veröffentlicht wurden.

Augusto Pinochet - Foto: AFP
Diktator Pinochet (1986): "Terroristen, die Opfer ihrer eigenen Molotowcocktails wurden"Bild: picture-alliance/dpa

Denn die Diplomaten zitieren nicht nur Augenzeugen, wonach die Jugendlichen von den Soldaten absichtlich angezündet wurden. Sie berichten auch, wie sich der damalige Diktator Augusto Pinochet vor die Täter stellte. So heißt es in einem Fernschreiben der Botschaft an das US-State-Department vom 14. Juli 1986: "Pinochets Anweisungen folgend, versucht die chilenische Regierung Rojas und Carmen Quintana als Terroristen darzustellen, die angeblich Opfer ihrer eigenen Molotowcocktails wurden".

In einer anderen Information an das Weiße Haus in Washington berichten die US-Diplomaten von einer Polizeiuntersuchung des Falles, in der klar die Verwicklung von Militärs in den Fall nachgewiesen werde. Aber General Pinochet habe sich geweigert, von Polizeichef General Stange entsprechende Dokumente entgegenzunehmen, weil "er dem Bericht nicht glaube".

Am 27. August 1986 berichtet der US-Militärgeheimdienst (DIA) aus Chile nach Washington, das Regime in Santiago habe "offenbar eine Einschüchterungskampagne gegenüber den Zeugen" des Verbrechens begonnen.

Drei Jahrzehnte ungeklärt

Der "Fall der Verbrannten" ("Caso Quemados") entfacht erneut die Auseinandersetzung über die Vergangenheit in einem Land, in dem nicht wenige noch heute den Militärputsch rechtfertigen und Pinochet verklären. Auch nachdem der Diktator abdanken musste, blieben viele Verbrechen bis heute ungesühnt. Im "Caso Quemados" konnte nicht geklärt werden, ob die beiden Jugendlichen tatsächlich absichtlich von den Soldaten angezündet wurden. Der Chef jener Militärpatrouille, Hauptmann Fernández Dittus, wurde in den 1990er Jahren lediglich zu 600 Tagen Gefängnis verurteilt, von denen er nicht einmal die Hälfte absaß: wegen Tötung ohne Vorsatz, weil er die Opfer nicht in ein Krankenhaus transportieren ließ.

Rodrigo Rojas de Negri - Foto: Martin Bernetti (AFP)
Opfer Rojas de Negri: Misshandelt, mit Benzin übergossen und in Brand gestecktBild: Getty Images/AFP/M. Bernetti

Eine schlagartige Wende nahm der Fall erst vor wenigen Tagen. Da berichtete der ehemalige Soldat #link:http://origenoticias.com/wp-content/uploads/2015/07/Fernando-Guzm%C3%A1n-Chile.jpg:Fernando Guzmán# in der Fernsehsendung "En la mira" des Fernsehkanals Chilevision, wie es wirklich war. Der damals 19-jährige Wehrpflichtige war an jenem Tag wegen der Proteste in Santiago mit einem Funkgerät unterwegs. Seiner Aussage zufolge wurde er Augenzeuge, wie die Patrouille die Festgenommenen misshandelte und einer der Militärs, ein Leutnant namens Julio Castaner, den Befehl gab, Rodrigo Rojas und Carmen Quintana mit Benzin zu übergießen. Danach habe derselbe Leutnant die beiden völlig verängstigten Jugendlichen beschimpft und mit einem Feuerzeug vor ihnen herumgefuchtelt, mit dem er sie dann auch in Brand setzte.

Guzmán berichtete auch, dass die jungen Leute keineswegs Molotowcocktails mit sich führten. Er und andere Kameraden seien aber von den Vorgesetzten auf diese Version eingeschworen worden. Der von Guzmán als Täter genannte Leutnant brachte es später in den chilenischen Streitkräften bis zum Oberst.

Bachelet lobt den Augenzeugen

Der Aussage des Ex-Soldaten folgte seitdem die Festnahme von bisher zwölf Tatverdächtigen auf Anweisung des Sonderermittlers Mario Carroza. Sie sollen wegen Mordes angeklagt werden.

In die öffentliche Debatte in Chile über den Umgang mit den Verbrechen der Pinochet-Ära kam erneut Schwung. Von einem "Schweigepakt" innerhalb der Streitkräfte ist die Rede. Präsidentin Michelle Bachelet, deren Vater als Allende treuer Luftwaffengeneral nach dem Militärputsch gefoltert worden war, sagte, es gebe viele Menschen in Chile, die bei der Aufklärung von Verbrechen helfen könnten: "Ich bitte Sie, folgen Sie dem Beispiel des Wehrpflichtigen Fernando Guzmán und helfen Sie, den Schmerz der Opfer zu mildern."

Carmen Gloria Quintana ist trotz dutzender Operationen noch heute schwer gezeichnet. Sie spricht davon, dass sie die Hoffnung auf Gerechtigkeit schon verloren hatte, und lobt ebenfalls den Zeugen, der seine Angst überwunden hat. Denn die haben viele Opfer der Diktatur offenbar noch heute. So ist auch die Veröffentlichung des sogenannten Valech-Berichts umstritten, den die Regierung bisher unter Verschluss hält. In ihm sind 33.000 Fälle von Personen aufgeführt, die während der Militärdiktatur aus politischen Gründen inhaftiert oder gefoltert wurden. Mit der Geheimhaltung, so argumentiert die Regierung, wolle man die damaligen Opfer schützen, die mit ihren Aussagen auch ihre Identität preisgeben.