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Sprechen Sie Deutsch!

6. Juli 2013

Gerhard Richter von der Evangelischen Kirche berichtet von einem Besuch. Die Gäste wollten die Heimat ihrer jüdischen Vorfahren kennen lernen. Würde dort womöglich auch für sie selbst etwas von „Heimat“ zu spüren sein?

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Thüringen
ThüringenBild: picture-alliance/dpa

Ein herzlicher Empfang

Vor drei Wochen gab es ein besonderes Ereignis in dem Südthüringer Dörfchen, in dem ich wohne. Besuch vom anderen Ende der Welt: Aus Australien waren drei Damen gekommen, um den Ort zu besuchen, an dem ihre Vorfahren gelebt hatten. Die letzten Juden hatten noch 1939 in unserem Dorf gelebt. Danach waren sie alle in die KZs der Nazis abtransportiert worden. Fast alle ermordet. Nur Wenige hatten es geschafft, sich in Sicherheit zu bringen und auszuwandern. Von solchen Auswanderern stammen unsere Besucherinnen ab. Sie waren sehr erstaunt, dass sie hier in Deutschland warm und gastfreundlich empfangen wurden. Sie hatten anderes erwartet.

Doch ein paar Familien aus unserem Dorf interessieren sich schon lange für das Schicksal der jüdischen Familien, die seinerzeit hier gelebt hatten. So fühlten sie sich auch verantwortlich für die Gäste. Sie zeigten ihnen die Häuser, in denen ehemals Juden gelebt hatten. Sie besuchten gemeinsam den jüdischen Friedhof, der in einem Nachbardorf noch erhalten ist. Dort fanden sie tatsächlich das Grab einer Großmutter. Sie befreiten es von Moos und Flechten und legten jede einen Stein auf die Grabfläche, Zeichen ihres Gedenkens. Gespräche mit ehemaligen Nachbarn waren arrangiert worden. Und die Gäste konnten eine Veranstaltung des Seniorenkreises besuchen, der sich gerade an diesem Nachmittag traf.

Die Tische waren gedeckt, Kaffeeduft lag in der Luft. Der Kuchen musste schnell gegessen werden, es war unerhört warm an diesem Tag. Nach einer kurzen Vorstellung kam das Gespräch recht schnell in Gang. Es war sehr hilfreich, dass eine der Besucherinnen vor Jahren einmal für ein paar Monate in Deutschland gelebt hatte. Sie hatte in einem Goethe-Institut Deutsch gelernt. Deshalb war die Sprache keine Barriere. Hätte man denken können...

Eine Sprachbarriere mitten in großer Vertrautheit

Aber: Wir leben hier in Südthüringen. Unsere Gegend ist bekannt für einen ausgeprägten Dialekt, der dem Fränkischen gleicht. Wenn sich zwei Frauen oder Männer aus unserem Dorf in Platt unterhalten, dann ist das für einen Fremden kaum zu verstehen; ein Buch mit sieben Siegeln. Aussprache und Begriffe unterscheiden sich von Dorf zu Dorf. Für eine Ausländerin oder einen Ausländer eine unüberwindbare sprachliche Hürde.

In dem Seniorenkreis treffen sich vornehmlich Damen, in würdigem Alter, die stolz darauf sind, noch den unverfälschten Dialekt unserer Region zu beherrschen. Den pflegen sie auch gern in ihrer vertrauten Unterhaltung.

Im Verlauf des Gesprächs wurden alte schwarz-weiß Fotos gezeigt. Auf ihnen waren Mädchen mit Zöpfen und Jungs in kurzen Hosen zu sehen. Klassenbilder aus längst vergangener Zeit. Anekdoten wurden erzählt. Und das grausame Ende bedauert - und beweint. Je intensiver das Gespräch wurde, um so mehr heimische Laute und Worte waren zu hören, bis eine der Australierinnen Aufmerksamkeit forderte: „Sprechen Sie bitte Deutsch!“ sagte sie.

Das andere Ende der Welt so nah

Über der angeregten Unterhaltung hatten unsere Seniorendamen vergessen, dass die Gäste von fern kamen. Sie hatten sie in ihr Gespräch einbezogen, als wären sie aus dem Nachbarort. Vorbehaltlos und unvermittelt. Erst diese kurze Bitte, verständlich zu sprechen, machte wieder deutlich, dass sie von verschiedenen Kontinenten kamen. Vom anderen Ende der Welt eben.

„Aus Fremden sind Freunde geworden.“ dachte ich damals, „Der kürzeste Weg dorthin ist ein verständnisvolles Gespräch oder eine gemeinsame Aufgabe.“ Unsere Gäste sind voll mit guten Eindrücken wieder nach Australien zurückgekehrt, ihre anfängliche Unsicherheit hatte sich nicht bestätigt. Deutschland ist ihnen nun nicht mehr so fern und fremd. Durch den herzlichen Kontakt zu ein paar Menschen haben sie ein Stück Heimat wiedergefunden.

Titel: Pfarrer Gerhard Richter Schlagworte: Richter, Wort zum Sonntag, Greifswald Wer hat das Bild gemacht?: Rundfunkarbeit im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) für den Medienbeauftragten des Rates der EKD Bildrechte: - Das Bild wurde von dritter Seite zur Verfügung gestellt: Der Urheber/die Urheberin hat die Nutzungsrechte in folgender (originalsprachlicher) Mail abgetreten Eingestellt September 2009.
Pfarrer Gerhard RichterBild: GEP

Gerhard Richter (Jahrgang 1957) ist seit November 2004 Gemeindepfarrer im Dörfchen Bibra im Süden Thüringens, das zur Gemeinde Grabfeld gehört. 2011 wurde er zum 2. Stellvertreter der Superintendentin des Kirchenkreises Meiningen gewählt. Als gelernter Tiefbauer studierte er zuerst Bauwesen, ehe er zur evangelischen Theologie fand. Später war er neben dem Pfarrdienst Landessynodaler in Thüringen und Mitglied im Theologischen Ausschuss der Vereinigten Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD). 1997 entsandte ihn das Evangelisch-Lutherische Missionswerk Leipzig für sieben Jahre in Tansania als Missionar. Gerhard Richter hat zwei Söhne und eine Tochter, die mittlerweile schon das dritte Enkelkind geboren hat.