1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Spiegel der Gesellschaft

Verica Spasovska 2. Februar 2003

Eine Erinnerungswelle rollt zum 60. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad durch die deutschen Medien: Dokumentationen, Berichte, Analysen. Doch der Blick zurück zeigt auch den Zustand der heutigen Gesellschaft.

https://p.dw.com/p/3Dsp

Sechs Jahrzehnte liegt diese Schlacht zurück, die eine der blutigsten des Zweiten Weltkrieges war. Und wer meinte, das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an historischen Fakten werde mit zunehmendem zeitlichen Abstand geringer, der sieht sich angesichts der breiten öffentlichen Debatte eines anderen belehrt. Der Grund liegt auf der Hand: Die letzten Augenzeugen wissen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt, ihre traumatischen Erfahrungen an die Nachkommen weiter zu geben.

Und in Deutschland ist eine Generation der Nachgeborenen herangewachsen, die unvoreingenommen erfahren will, was damals geschehen ist. Dieses Interesse gilt zweifellos auch anderen, lange Zeit eher zurückhaltend behandelten Themen, wie etwa der Flucht und Vertreibung der Deutschen oder den Auswirkungen des Bombenkrieges auf die deutsche Zivilbevölkerung. Das Buch des Berliner Historikers Jörg Friedrich "Der Brand" hat gerade zu diesem Thema in den vergangenen Wochen eine breite öffentliche Diskussion angestoßen. Sie zeigt zum einen, wie groß das Bedürfnis der Kriegsgeneration ist, auch über die eigenen Leiden sprechen zu können. Und sie zeigt zum anderen, dass die junge Generation inzwischen genügend Abstand hat, um diese Themen ohne den Vorwurf des Revanchismus diskutieren zu können.

Die Kapitulation der 6. Armee bedeutete einen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Er läutete zwar keineswegs das Ende des Krieges ein, wie es gelegentlich fälschlicherweise heißt. Denn es gab andere Entscheidungen und Ereignisse, die strategisch weitaus entscheidender waren oder noch mehr Opfer gefordert haben. Aber Stalingrad hat sich deshalb so tief in die kollektive Erinnerung eingegraben, weil mit diesem Namen das Ende des Mythos von der Unbesiegbarkeit der deutschen Armee verbunden ist. Für die Nazionalsozialisten war die Kapitulation mit einem immensen innenpolitischen Schaden verbunden, weil sie den "plötzlichen und militärischen Zusammenbruch der deutschen Illusionen über die militärische Kraft der Sowjetunion" markiert, wie der Freiburger Historiker Wolfram Wette aus aktuellem Anlass konstatiert.

Die Distanz von sechzig Jahren lässt eine nüchterne Betrachtung zu: Darüber, dass die bedingungslose Führergläubigkeit der hohen Militärs den eingekesselten Soldaten auch die letzte Fluchtmöglichkeit raubte. Darüber, dass eine ganze Generation, manipuliert von der NS-Propaganda in einen verbrecherischen Vernichtungskrieg zog und dafür mit Tod und Gefangenschaft büßen musste. Und darüber, dass sich die ausgehungerten und halberfrorenen Soldaten keineswegs als Helden fühlen wollten, wie es die NS-Propaganda verkündete.

Bedenklich stimmt hingegen, dass die kollektive Erinnerung, die jetzt einsetzt, vor allem von Selbstreflexion geprägt ist. Der Blick auf die andere Seite der Schlacht von Stalingrad bleibt weitgehend verstellt. Kaum jemand spricht über das Schicksal der russischen Zivilbevölkerung in Stalingrad, die unter den deutschen Angriffen litt. Über das Leiden der Halbwüchsigen, die in Viehwagons als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschickt wurden, ist nur wenig bekannt. Und nur am Rande wird in den zahlreichen Dokumentationen erwähnt, dass der Blutzoll unter den Rotarmisten um ein Mehrfaches höher liegt als unter den Soldaten der Wehrmacht.

Was auch immer die Deutschen dazu bewegt, sich der Erinnerung an Stalingrad zuzuwenden, die gewaltige Resonanz ist ein wichtiger Schritt, um die Vergangenheit zu bewältigen und aus der eigenen Geschichte heraus die Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Vielleicht erklärt sich aus dem intensiven Blick auf die Ereignisse vor sechzig Jahren auch die zögerliche Haltung gegenüber einem anderen Krieg, der in diesen Wochen die gesamte öffentliche Diskussion überlagert: der drohende Krieg im Irak. Der Potsdamer Historiker Rolf Dieter Müller zieht aus den interessierten Reaktionen seiner Studenten jedenfalls folgenden Schluss: "Die Lehre von Stalingrad heißt nun nicht mehr 'Nie wieder Krieg', sondern nie wieder einen 'solchen' Krieg, in dem eine deutsche Regierung ihre Soldaten in eine vergleichbar fatale Lage manövriert."