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Spinnens Wortschau

1. Juni 2011

Unlängst habe ich mich an dieser Stelle mit dem Wort "Restrisiko" beschäftigt, einem Wort, das sich nach dem Reaktorunfall in Japan vermutlich selbst als Unwort des Jahres vorschlagen wird.

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Der Schriftsteller Burkhard Spinnen (Foto: privat)
Burkhard SpinnenBild: Burkhard Spinnen

Zeit also, wieder einmal über ein Wort zu sprechen, das bei der Unwort-Jury nicht den Hauch einer Chance haben dürfte. Ich rede von: spannend. Und, nicht wahr: Harmloser geht’s doch nun wirklich nicht?

Kein böses Wort

Spannend scheint nun wirklich kein böses Wort zu sein. Und tatsächlich verbirgt sich hinter seinem aktuellen Gebrauch auch durchweg kein Angriff auf die Menschenwürde oder dergleichen. Spannend sagt man heute bloß, wo man früher vielleicht interessant oder ungewiss gesagt hätte. Es gibt die spannende Entwicklung am Aktienmarkt, eine spannende Performance (in der Kunst oder in der Wirtschaft), ein spannendes Projekt usw. usw. Das ist doch wirklich harmlos, oder?

Der Teufel sitzt im Unauffälligen

Nein, ist es nicht! Der Umstand, dass heute alles Mögliche spannend ist (hören Sie nur einmal hin!), hat vielmehr Gründe, die tief ins Bewusstsein unserer Gegenwart reichen und dort von den großen Ängste und Erwartungen rühren.

So gibt es heute eine grauenhafte Angst aller Macher, Erfinder und Verkäufer vor der Bestie Publikum. Die Konsumenten werden immer kritischer und zögerlicher. Daher müssen alle Anbieter heute zu Versprechungen greifen, die möglichst auf alle Sinne zielen. Und so wird alles spannend: ein Einkaufsgang ebenso wie die Benutzung eines Konsumartikels, ein Weekend-Trip oder eine mittelfristige Investition. Denn was spannend ist, ist gewissermaßen krimi- und damit per se unterhaltungsförmig.

Beruhigungsvokabel mit belebenden Substanzen

Blaue und rote Pillen (dpa)
Ein Wort als SchmerzmittelBild: picture-alliance/ dpa

Aber Krimis können auch schlecht ausgehen. Genau wie Aktienkäufe und überhaupt sehr viele Unternehmungen. Die Möglichkeit, "keine Experimente" zu machen, besteht heute gar nicht mehr. Alles ist change, folglich ist vieles Experiment, und auf glückliche Ausgänge können wir nicht mehr so vertrauen wie die ersten Nachkriegsgenerationen. Folglich stimmt derjenige, der etwas spannend nennt, alle Beteiligten auf die Möglichkeit des Scheiterns ein – und ermuntert sie zugleich, den ungewissen Ausgang nicht bloß als Horror, sondern auch als stimulierendes oder wenigstens als unterhaltendes Moment zu begreifen.

Aber warum will ich spannend dann als Unwort einreichen? Es ist doch offenbar ein Modewort, in dem sich die Unsicherheit der Gegenwart ganz richtig spiegelt.

Ja, das mag sein. Aber es missfällt mir, wenn man der eigenen Unfähigkeit, zu wissen, wie es weitergeht, zwanghaft noch etwas Entertainment abringen will. Für mich bleibt spannend ein Unwort: eine Beruhigungsvokabel, ein Wort als Schmerzmittel mit belebenden Substanzen. Solche Medikamente werden gern genommen. Aber sie kurieren nur ein paar Symptome. Und auf lange Sicht hin sind sie außerordentlich schädlich.

Autor: Burkhard Spinnen
Redaktion: Gabriela Schaaf


Burkhard Spinnen, geboren 1956, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Glossen und Jugendbücher. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Spinnen ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Zuletzt ist sein Kinderbuch "Müller hoch Drei" erschienen (Schöffling).