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Lesen für Liu Xiaobo

Rebecca Roth21. März 2012

Er bewegt die Literaturwelt: In Lesungen rund um den Globus haben Autoren ihre Solidarität mit dem chinesischen Regimekritiker Liu Xiaobo bekundet. Auch in Berlin - mit Herta Müller, der Literaturnobelpreisträgerin.

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Lesung für Liu Xiaobo im Berliner Martin Gropius Bau (Foto: DW/Rebecca Roth)
Bild: Rebecca Roth

Liu Xiaobo ist der einzige, der den ganzen Abend über lächelt - auf einem Schwarzweiß-Foto, das überdimensional groß an die Wand hinter dem Podium projiziert wird. Doch so sanft und freundlich der Friedensnobelpreisträger auch auf dem Foto lächelt, ist er doch der schärfste und tiefschürfendste Kritiker des Ein-Parteien-Systems in China. Und deshalb habe er auch sehr wohl Feinde, sagt Herbert Wiesner, der Generalsekretär des P.E.N-Zentrums Deutschland: Nämlich die, die ihn derzeit in chinesischer Haft festhalten.

Er ist einer der Teilnehmer der weltweiten Lesung für die Freilassung von Liu Xiaobo. Der Aktion am 20. März, dem Jahrestag der politischen Lüge, hatten sich rund 100 Autoren und Institutionen aus aller Welt angeschlossen. In Berlin kamen zu diesem Anlass die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, der chinesische Exil-Schriftsteller Liao Yiwu, der Direktor des internationalen Literaturfestivals Berlin, Ulrich Schreiber, und die Vorsitzende des unabhängigen chinesischen P.E.N.-Zentrums, Tienchi Martin-Liao, zusammen. Anders als bei einer gewöhnlichen Lesung ging es jedoch nicht darum, aus ihren eigenen Werken zu lesen - sondern Liu Xiaobos Worten zuzuhören.

Herta Müller, Ulrich Schreiber, Liao Yiwu, Tienchi Martin-Liao (Foto: DW/Rebecca Roth)
Solidarisch: Herta Müller, Ulrich Schreiber, Liao Yiwu, Tienchi Martin-LiaoBild: Rebecca Roth

Ein Kampf seit 100 Jahren

So zum Beispiel der "Charta 08", einem Manifest für mehr Demokratie und Freiheit in China. Liu Xiaobo hatte es im Jahr 2008 zusammen mit anderen Dissidenten verfasst. Im schummrigen Kinosaal des Berliner Martin-Gropius-Baus liest Schauspieler Roland Schäfer den Text in seiner Gesamtlänge vor. 27 Minuten dauert das - eine gefühlt sehr lange Zeit. Nichts jedoch gegen die elf Jahre Haft, zu denen Liu Xiaobo im Dezember 2009 verurteilt wurde. Die Anklage stammte aus dem Standardrepertoire, dessen sich die chinesische Justiz in politischen Fällen bedient: Untergrabung der Staatsgewalt.

Die Gefährlichkeit der "Charta 08" ist für westliche Ohren vielleicht nicht unbedingt zu erkennen. Zu gewöhnlich mögen die Forderungen nach Pressefreiheit und freien Wahlen für ein westliches Publikum klingen, vermutet der chinesische Autor Liao Yiwu. Doch für Chinesen sei dieser Text sehr wichtig. Denn für die darin geäußerten Forderungen kämpften Menschen in China seit 100 Jahren. Er sei tief bewegt, so Liao Yiwu, dass es in China nach 1989, dem Jahr des Tiananmen-Massakers, nun einen solchen Grundsatztext gebe, für dessen Analysen und Forderungen man sich einsetzen könne.

Willkommen im Exil

Doch dazu braucht es Menschen, die Mut haben, diese Forderungen auch stets wieder zu formulieren. Autoren wie Herta Müller, die ihre Empörung darüber äußerte, dass westliche Regierungs- und Wirtschaftsvertreter die chinesische Regierung nicht schärfer kritisierten. Auch die Kulturschaffenden zeigten zu wenig Rückgrat, findet sie. So sei zur kommenden Buchmesse in London kein einziger Exil-Schriftsteller oder Dissident aus China eingeladen worden. "Und das in einem Land, wo das absolut nichts kosten würde", sagt Müller. "Wenn wir sehen, was Liu Xiaobo bezahlt, dann ist man entsetzt."

Auch der Autor Liao Yiwu hat für seine Meinungsäußerungen bezahlen müssen. Er hat Gefängnisaufenthalte und Folter erlebt. In China sind seine Bücher verboten. Seit Ende 2011 lebt er im Exil in Berlin. Hier fühlt er sich wohl, und das hat auch damit zu tun, dass er in Berlin - kaum auf dem Flughafen gelandet - sofort von einer interessierten Leserschaft erwartet wurde. Das Gefühl der Einsamkeit sei sofort weg gewesen und er habe sich zum ersten Mal verstanden gefühlt, erinnert sich Liao Yiwu. Solidaritätslesungen findet er deswegen sehr wichtig, denn sie trügen dazu bei, dass Autoren wie Liu Xiaobo nicht vergessen werden.

Der Exil-Schriftsteller Liao Yiwu in Frankfurt (Foto: DW/Rebecca Roth)
Gegen das Vergessen: Der Exil-Schriftsteller Liao YiwuBild: DW

Aber ob Liu Xiaobo von solchen Veranstaltungen überhaupt erfährt? Tienchi Martin-Liao ist sich sicher: Liu Xiaobo wisse, dass er nicht allein ist und dass man ihn nicht vergisst - selbst, wenn er es über Antennen im Gehirn erspüre. "Ich hoffe, dass er nicht bis 2020 im Gefängnis sitzen wird", fügte sie hinzu. "Wer weiß, was da in der Zwischenzeit passiert.“