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So "housen" die "Commons"

4. Mai 2005

Sie johlen, grölen, legen die Füße auf die Lehne, nicht alle haben Platz. Regierungsbänke gibt es nicht, stattdessen direkten Blickkontakt mit der Opposition: zwei Degenlängen entfernt. Britische Abgeordnete sind anders.

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Den Abgeordneten den Marsch blasenBild: dpa


"Order! Order!" ruft der Speaker, der Parlamentspräsident, ein ums andere Mal. Aber in diesen Haufen lässt sich keine Ordnung bringen: In der "Mutter aller Parlamente" geht es zu wie im Pub. Sie ist als "beste Kneipe Londons" bekannt, weil in den 14 Bars mit Spitznamen wie "Kreml" und "Ehebrecher-Bar" rund um die Uhr Alkohol ausgeschenkt werden darf - ohne Sperrstunde. Gleichzeitig werden jahrhundertealte Formen gewahrt.

Parlament in London Energieverschwendung
Ort für hitzige DebattenBild: dpa

Nichts für Mundfaule

Streng genommen, ist der Speaker der einzige, mit dem die Abgeordneten reden. Auch in der Debatte dürfen sie sich nicht direkt ansprechen, schon gar nicht mit Namen. Einzig korrekt ist folgende Ausdrucksweise: "Mr. Speaker, das Ehrenwerte Mitglied für [den Wahlkreis] Bexleyheath und Crayford redet mal wieder völligen Unsinn." Spickzettel sind verpönt. Man redet frei - und wer das nicht kann, hat keine Chance. Daneben wird von jedem Abgeordneten - weitaus stärker als in Deutschland - erwartet, die Belange seines Wahlkreises zu vertreten.

Regelmäßig kommt es in der Fragestunde des Premierministers am Mittwochmittag vor, dass sich zum Beispiel während einer erhitzten Irakdebatte plötzlich ein Hinterbänkler zu Wort meldet und fragt: "Was sagt diese Regierung zu der folgenschweren Schließung des Postamtes auf der Hauptgeschäftsstraße meines Wahlkreises?" Die einzig korrekte Reaktion des Premierministers ist dann, möglichst frei von Ironie, zu antworten: "Mr. Speaker, der Ernst der Lage im Wahlkreis des Ehrenwerten Mitglieds für XY ist mir voll bewusst ..."

Tony Blair in Parlament
Tony Blair hat's schwerBild: dpa

Man weiß, mit wem man's zu tun hat

Der Saal des Unterhauses mit seinen grünen Ledersitzen ist schlicht gehalten; schließlich ist dies in der englischen Originalbezeichnung das "House of Commons", das Haus der einfachen Leute - nicht das der hohen Herren, der Lords, die ein paar Gänge weiter wie in einem Dom residieren. Die Lords des Oberhauses sind heute weitgehend entmachtet. Überhaupt sagt man, in Großbritannien herrsche für die Dauer einer Legislaturperiode jeweils eine "Parteidiktatur": Das Mehrheitswahlrecht, wonach in jedem Wahlkreis immer nur der mit den meisten Stimmen einen Parlamentssitz bekommt und alle anderen leer ausgehen, führt normalerweise zu sehr klaren Mehrheiten.

Parlament in London Speaker
Hoppla, jetzt komm ich!Bild: dpa

Historisches Beharrungsvermögen

So verzweigt wie der Palast von Westminster mit seinen 4,8 Kilometer langen Korridoren und 1100 Räumen sind auch die bis ins Mittelalter zurückreichenden Gesetze und Traditionen, in die die Parlamentarier eingebunden sind. In den 1970er Jahren wurde dieses System oft als eine der Ursachen für die damalige Wirtschaftsmisere Großbritanniens genannt. Doch kein britischer Politiker wäre deshalb auf die Idee gekommen, das System zu "reformieren". Der Respekt vor Tradition und Geschichte - das ist es, was ein Brite unter der "Würde des Hohen Hauses" versteht. (arn)