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Chinesisches Bildungsroulette

Frank Sieren3. Juli 2015

Jedes Jahr herrscht großer Trubel um das Gaokao, das chinesische Abitur. Und jedes Jahr kritisieren vor allem die Verlierer der weltgrößten Schulprüfung das chinesische Bildungssystem, meint DW-Kolumnist Frank Sieren

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China - Gaokao
Bild: picture-alliance/dpa

Anfang Juni haben mehr als neun Millionen chinesische Schüler mit ihrer Abschlussprüfung China wieder in einen Ausnahmezustand versetzt. Die Bedeutung der Gaokao, dem chinesischen Äquivalent zum deutschen Abitur, lässt sich für China gar nicht überschätzen. Die „Hohe Prüfung“, wie sie übersetzt heißt, entscheidet über die Zukunft eines jeden chinesischen Schulkindes. Wer eine hohe Punktzahl einfährt, dem stehen die Türen zu den besten Unis und Studentenwohnheimen des Landes offen. Der große Vorteil ist, dass jedem qualifizierten Schüler der Test offensteht. Und, dass es sehr schwierig ist, sich über Beziehungen und oder Bestechung Zugang zu dem System zu verschaffen. Unter den Schwellenländern ist China damit mit seinem Gaokao-System das Land mit der größten Chancengleichheit. Diesen Vorteil kann man gar nicht hoch genug einschätzen, wenn man das zum Beispiel mit Indien vergleicht, wo schon das Kastensystem vielen Begabten den Weg nach oben versperrt. Oder die Frage, ob es gute Schulen in der Region gibt, aus der die Schüler stammen.

Wie wichtig der zweitägige Test für die Chinesen ist, zeigt der Trubel, der darum entsteht. Das beste Beispiel dieses Jahr ist vielleicht der junge Peng Chao, der in diesen Tagen landesweit zum kleinen Helden avancierte. Peng, der mit sechs Jahren bei einem Unfall beide Arme verlor, schrieb die Prüfung allein mit seinen Füßen. Sein überdurchschnittliches Ergebnis von 603 aus 700 Punkten brachte ihm nicht nur nationale Anerkennung in den Medien, sondern auch einen Platz an seiner Wunschuni.

Schlagzeilen mit Betrugsversuchen

Abseits dieser schönen Geschichte macht das Gaokao aber vor allem mit den Betrugsversuchen der Schüler und den Sicherheitsmaßnahmen dagegen Schlagzeilen. So gab es dieses Jahr einen Skandal, als ein Reporter in der Provinz Jiangxi, herausfand, dass Schüler sich bei der Prüfung von Unistudenten vertreten ließen. Für viele andere Täuschungsversuche haben die Prüfer zum Teil eigenartige Gegenmaßnahmen ergriffen. Metalldetektoren sind noch das harmloseste. In einer Provinz mussten die Schüler während der Prüfung Pappkartons auf den Köpfen tragen, um nicht beim Nachbar abschreiben zu können. Dieses Jahr kam die Kontrolle zusätzlich aus der Luft: Es wurden Drohnen über den Testzentren stationiert, die jeglichen verdächtigen Radio- und Funkverkehr in der Umgebung abfingen, damit sich niemand Informationen von außen über Ohrhörer einholte. Beim Gaokao entwickeln manche Schüler ebenso viel Geschick beim Täuschen, wie andere beim Lösen der Aufgabe. Das Risiko ist allerdings hoch. Wer erwischt wird, fliegt raus, darf es nicht wieder versuchen und damit auch keine Universität mehr in China besuchen. Nur noch ein Studium im Ausland ist möglich. Das ist jedoch für viele Chinesen unbezahlbar.

Die Risikobereitschaft sagt viel über die Schwächen des Systems. Eine einzige Prüfung entscheidet über das Leben und die Aufstiegschancen ganzer Familien. Das ist hart.

Schlüssel, aber keine Garantie für den Erfolg

Nur etwa 6,5 Millionen Studienplätze stehen für mehr als neun Millionen Schulabgänger Chinas bereit. Jeder Dritte fällt also durch. Immer mehr Schüler aber auch Eltern kritisieren den hohen Druck der Gaokao-Prüfungen. Teilweise lernen die Schüler in China monatelang Tag und Nacht um das Lernpensum zu schaffen. Zudem belohnt die Prüfung zu sehr diejenigen, die gut auswendig lernen können.
Und selbst diejenigen die es geschafft haben, sind noch nicht ganz oben angekommen. Nur die besten bekommen einen Studienplatz in der C9 Liga.

Frank Sieren Kolumnist Handelsblatt Bestseller Autor China
DW-Kolumnist Frank SierenBild: Frank Sieren

Ähnlich der amerikanischen Ivy-League ist die C9 eine Gruppe von neun ausgezeichneten Spitzenunis. Einen Abschluss dort können die Familien mit Gold aufwiegen. Die Absolventen der mehr als 2400 anderen Unis haben inzwischen Probleme, einen angemessenen Job zu finden. Gaokao ist also der Schlüssel aber keine Garantie zum Erfolg mehr. Der unfassbaren Freude, die Prüfung bestanden zu haben, folgt nach dem Studium die Ernüchterung bei der Jobsuche.

Deshalb studieren die Schulabgänger, deren Eltern es sich leisten können, gleich im Ausland. 2014 studierten über 450.000 Chinesen im Ausland. Diesen Trend möchte die Regierung in das Gaokao-System integrieren, um zu verhindern, dass nur die Reichen und die Gescheiterten ins Ausland gehen. Das Bildungsministerium arbeitet nun daran, dass die Ergebnisse der Gaokao Prüfung auch international anerkannt werden. Bisher wurde das Gaokao international nur von vereinzelten Universitäten als Zugangsberechtigung anerkannt. Meistens waren weitere Tests nötig, die die chinesischen Bewerber viel Geld und zusätzliche Zeit kosteten, nicht selten sogar noch ein ganzes Jahr der Vorbereitung. Peking möchte den Gaokao-Prüflingen den Weg ins Ausland erleichtern, weil die Zahl der chinesischen Studenten schneller wächst, als die Zahl der qualifizierten Unis. China hat schon heute mehr Universitätsabsolventen als die USA. Es sind 7.5 Millionen allein in diesem Jahr. Die Auslandsunis werden das Problem nicht lösen. Schon jetzt haben die amerikanischen und englischen Eliteunis Chinesenquoten. Anders als bei den Frauenquoten in Deutschland geht es dabei nicht um Mindestquoten, sondern um Höchstquoten. Es gibt schon heute mehr junge schlaue Chinesen als die internationalen Eliteunis vertragen können.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit 20 Jahren in Peking.