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Sehen ist Illusion

Christine Gruler18. Oktober 2003

Bilder sagen mehr als tausend Worte. Doch was sie uns in ihrer einfachen Sprache vermitteln, ist nicht selten glatt erfunden: Eine Ausstellung in Berlin führt in ein Labyrinth der Bilderlügen.

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Der Künstler Matthias Wähner verfremdet historische Fotos durch Einmontieren der eigenen Person

Noch Jahre, bevor Leo Dawidowitsch Bronstein, genannt Trotzki, im mexikanischen Exil ermordet wurde, starb er viele kleine Tode: Schere und Retuschierpinsel entfernten ihn aus sämtlichen Bildern, die ihn im kollektiven Bildgedächtnis unsterblich gemacht hätten. So unsterblich wie seinen politischen Kontrahenten Stalin, der am Hebel der Bildmaschine gleichermaßen als Schöpfer und Produkt einer internationalen Massenkultur wirkte.

Der direkte Eingriff ins Bildmaterial ist die älteste aller klassischen Methoden der Bildmanipulation. Auch der Fotokünstler Matthias Wähner nutzt sie für seine Verfremdungen solcher historischer Aufnahmen, die - Ikonen gleich - auf unserer eigenen "Bild-CD" eingebrannt sind: Frech montiert er sein Konterfei in eine Altarszene wie Willy Brandts Kniefall (siehe Foto) vor dem Warschauer Getto. Er drängt sich winkend neben John F. Kennedy, hüpft mit Brigitte Bardot über die Wiese oder räkelt sich lässig neben Kaiser Bokassa auf dem Sofa.

Wir glauben, was wir sehen

Hand aufs Herz - wer hat den Unbekannten sofort entdeckt? Wähner stellt unser Bildgedächtnis auf die Probe und rührt außerdem an einen wichtigen Punkt: Wie reagieren wir angesichts bekannter Bilder, die uns ständig wieder begegnen? Sind wir schon vollkommen abgestumpft, was die Unterscheidung von Abbild und Wirklichkeit anbetrifft?

Denn obwohl wir tagtäglich von manipuliertem Bildmaterial umflutet werden, ist die Macht des Bildes als authentischem Zeugnis immer noch ungebrochen. Es gilt die alte Formel: "Wir glauben, was wir sehen". Nicht umsonst fragt die Wanderausstellung "Bilder, die lügen" deshalb nach der Objektivität von Bildern und zeigt Grundmuster der Manipulation auf.

Aus Wasser wird Blut

Bilder, die lügen - Ausstellung im DHM
Das Schweizer Boulevard-Blatt Blick macht aus der Wasserpfütze im Originalfoto eine BlutlacheBild: Presse

Von "A wie Aktuelles" bis "Z wie Zukunft" führen Fallbeispiele aus Geschichte, Politik und Medienalltag durch die Codierungen des "Lügen-Alphabets". Aus Wasser wird Blut - wie etwa in der digitalen Bearbeitung eines Agenturfotos vom Tempel der Hatschepsut nach einem Anschlag islamischer Terroristen (siehe Foto). Und aus Kindern in gestreiften Bademänteln werden Häftlingskinder. Mit dem richtigen Bildausschnitt und einer entsprechenden Unterzeile lassen sich auch banale Alltagsszenen zum Politikum instrumentalisieren.

Die Zukunft hat schon längst begonnen

Für weitere Aktualisierungen der Schau mangelt es nicht an Stoff: "Man stolpert ja förmlich tagtäglich über neue Beispiele", sagt Dr. Jürgen Reiche gegenüber DW-WORLD. Der Historiker vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn hat die Ausstellung in der Hoffnung konzipiert, eine Diskussion über den Gegenstand der kritischen Bildbetrachtung anzuregen.

Bilder, die lügen - Ausstellung im DHM
Stephanie von Monaco mit verschiedenen Babys, teils Wochen vor der Geburt

Denn was die technischen Möglichkeiten der Bildmanipulation anbetrifft, so befinden wir uns schon mitten in der Zukunft. "Die Wahrheit liegt nur noch einen Mausklick neben der Fälschung", hat der Fernseh-Journalist Udo Reiter erkannt. Nicht nur die Digitalisierung der Bildmedien, auch die in Film und Fernsehen gängige Praxis der Bildkomposition in der Blue Box gewährt nahezu unbegrenzte Möglichkeiten.

Krieg aus der Blue Box

Deshalb hat Reiche auch einen Film ans Ende der Schau gesetzt. In Barry Levinsons 1998 entstandener bitterböser Polit-Komödie "Wag the dog" ("Wenn der Hund mit dem Schwanz wedelt") kämpft das Weiße Haus mit harten Bandagen für die Sicherung der amerikanischen Präsidentschaft. Was lenkt die Menschen besser von einem Skandal ab als ein Krieg?

Der Präsident muss ihn jedoch nicht einmal mehr führen. Dank moderner Technik geht das viel sauberer. Ein findiger Hollywood-Produzent inszeniert im Film einen Krieg - in der Blue Box. "Man weiß am Ende nicht, ob dieses Beispiel Realität wird oder schon ist", kommentiert Reiche mit Blick auf die medialen Inszenierungen aus dem jüngsten Irak-Krieg. Ein Fallbeispiel der Schau bestätigt seine Zweifel: Eigens für die Kamera richten amerikanische Soldaten in einem Filmausschnitt ihre Waffen auf ein nicht vorhandenes Ziel.

"Bilder, die lügen": noch bis zum 1. Februar 2004 im Deutschen Historischen Museum, Pei-Bau