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Schwielen, Blasen, Überstunden

18. Dezember 2012

Ist es Traum oder Albtraum, über 40 Jahre eine Arbeitsstelle zu haben? Ohne Karriere und Spitzengehalt? Oder wenn ein Aufstieg mit radikalen Umbrüchen der Arbeitswelt einhergeht? Fünf Porträts. Heute: Michael Wollersheim

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Älterer Mann trägt Warnleuchte mit rot-weißem Sockel (Copyright: Dieter Seitz)
Bild: Dieter Seitz

Es gibt nicht viele Menschen, die ihre Stadt so gut kennen wie Michael Wollersheim: Er weiß, wo unter der Erde welche Kabel laufen. Und in welcher Straße welches Licht brennt, könnte er aufsagen, wenn man ihn nachts aus dem Schlaf reißt. Was übrigens immer wieder passiert. Denn Wollersheim macht auch heute noch Bereitschaftsdienst, nach über 40 Jahren im Job. Und wenn nachts einmal die Lichter ausgehen in Bonn, kann es passieren, dass auch bei ihm das Telefon klingelt, zum Beispiel weil ein LKW bei einem Unfall einen Laternenpfahl so umgerissen hat, dass er mitten in die Straße hineinragt. Das darf natürlich nicht so bleiben: Dann rücken Wollersheim und seine Kollegen an, um weitere Unfälle zu verhindern, und richten die Laterne wieder auf.

Zirkuswagen und Dienstfahrrad

Angefangen hat Michael Wollersheim als junger Elektriker, genauer als Elektrowickler: Sein Fachgebiet war die Herstellung und Reparatur von Elektromotoren. Nach der Ausbildung war er zwei Jahre "auf Montage", anschließend kam die Bundeswehrzeit – und dann ging er zu den Bonner Stadtwerken. "Ich war kein Arbeiten mehr gewöhnt nach 18 Monaten Bundeswehr", grinst Wollersheim heute: "Ich musste dann bei den Stadtwerken lauter Erdarbeiten machen. Was meinen Sie, wie meine Hände damals aussahen! Alles voller Blasen und Schwielen!"

Wollersheim im Kabelschacht einer Baustelle, ein schwarzes Kabel zur Überprüfung in der Hand (Copyright: Dieter Seitz)
Kein Erdarbeiter mehr, aber immer noch draußen im Einsatz: Wollersheim beim Kabel-CheckBild: Dieter Seitz

Zuerst ist er in der Kolonne mit Bauwagen eingesetzt: "Das war wie ein Zirkuswagen", witzelt er, "Fahrzeuge hatten damals nur die Meister und die Vorhandwerker. Ich hatte ein Dienstfahrrad. Damit bin ich jeden Morgen zu den Baustellen gefahren." Michael Wollersheim war mit Abstand der Jüngste in der Kolonne, knapp 21 Jahre alt. "Ein 40-Jähriger kam mir damals wie ein alter Mann vor", erinnert er sich lachend. Aber die "alten Männer" liessen ihn auflaufen: "Der soll sich erst mal durchsetzen", hieß es zuerst. Aber Wollersheim war fast der einzige gelernte Elektriker im Team: Die Anerkennung für sein Können kam dann doch schnell.

Vom Erdarbeiter zum Vorhandwerker

So hat die Zeit der Erdarbeiten, der Blasen und Schwielen ein Ende: Als Elektriker kommt Wollersheim in die Werkstatt, repariert dort Lampen, baut Schaltschränke. Und dann geht es nach draußen, auf dem Hubsteiger, wie die Fachleute sagen, einem LKW mit ausfahrbarem Gelenkarm, auf dem Wollersheim in schwindelerregender Höhe steht und Straßenlaternen repariert.

Nur die Bezahlung war früher schlecht: "Wir haben bei den Stadtwerken viel weniger verdient als Handwerker in anderen Betrieben. Viele Kollegen haben Überstunden gekloppt, um etwas mehr zu verdienen. Wir haben alle viel samstags gearbeitet. Oder nachts, wegen der Zuschläge. Und wir haben viel nebenbei gearbeitet." Geblieben ist er damals trotzdem, denn der Arbeitsplatz war sicherer als in der freien Wirtschaft. Eines Tages, in den 70er Jahren, gab es eine große Lohnerhöhung, erinnert er sich: "15 oder 20 Prozent mehr! Da wurden wir endlich bezahlt wie die anderen Handwerker auch."

Aufwärts geht es auch beruflich: Nach 20 Jahren bei den Stadtwerken wird Michael Wollersheim zum Vorhandwerker ernannt: "Darauf war ich stolz! Ich hab mich hochgearbeitet vom Erdarbeiter zum Vorhandwerker!" Das war anfangs ein komisches Gefühl: "Man hängt immer zwischen den Kollegen und den Vorgesetzten! Aber ich hab mich dran gewöhnt." Vorhandwerker ist er bis heute. Morgens teilt er die Arbeit der Kollegen im Außendienst ein. Nach der Besprechung mit dem Meister fährt er dann raus und hat ein Auge auf all die Arbeiten, die er selbst so gut kennt. Gelegentlich fasst er auch mal mit an. Und wenn er Bereitschaftsdienst hat, ist das ohnehin klar: "Da gibt es keine Unterschiede zwischen Vorhandwerker und Handwerker, auch die Meister packen dann an wie die Monteure!"

Vom LKW angefahren

40 Jahre lang von einer Baustelle zur anderen ziehen, jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen, das ist nicht immer leicht. Das Aufstehen, sagt Wollersheim, war früher manchmal schlimm, als er jung war: "Da hat man mehr gefeiert, da ist es abends schon mal später geworden, und dann fiel es schwer. Aber man musste eben raus, es ging ja nicht anders!" Heute fällt ihm das leichter, dafür macht die körperliche Arbeit mehr Mühe.

Tiefpunkte gab es auch in der langen Zeit. Das Schlimmste: ein schwerer Arbeitsunfall auf der Baustelle. "Wir haben Kabel verlegt, es hatte geregnet, ich stand im Matsch und sank immer tiefer ein. In dem Moment fährt ein LKW an und fährt mir in den Rücken. Der hat mich in den Graben geschleudert, ich hatte den linken Arm ausgekugelt, Muskelabriss. 18 Wochen war ich krank, konnte den Arm kaum noch bewegen. Ganz bewegen kann ich ihn immer noch nicht." Ein halbes Jahr lang konnte Wollersheim nicht Auto fahren. "Da denkt man, Mensch, es wird Zeit, du könntest in Pension gehen!"

Porträt Wollersheim mit schwarzer Lederjacke (Copyright: Dieter Seitz)
Nach 40 Jahren: Manchmal freut man sich auf die Zeit 'danach'Bild: Dieter Seitz

Inzwischen ist er in Altersteilzeit. Und er weiß genau, wann sein letzter Arbeitstag sein wird: "Am 30. April 2011 ist Ende!" Wenn Wollersheim darüber spricht, merkt man ihm ein Stück Erleichterung an, und er strahlt: "Ich freu mich darauf!" Aber unterm Strich ist er nach der langen Zeit zufrieden mit seiner Arbeit: "Weil man sieht, was alles davon abhängt! Wenn man erlebt, wie viele Leute anrufen, wenn Straßenlaternen ausfallen. Oder wenn man sieht, was passiert, wenn die Beleuchtung in einem ganzen Straßenzug ausfällt! Und es ist immer noch ein schönes Gefühl, wenn man rausgefahren ist und den Fehler behoben hat!"

Und da sind auch noch die Kollegen – auch sie sind Teil seines Lebens geworden. Allerdings war der Zusammenhalt früher besser: Heute stehen alle mehr unter Druck, müssen mit weniger Personal mehr arbeiten, da ist nicht mehr viel Zeit, mal zu fragen, wie es den Anderen geht: "Dienst zu Ende, Tür zu, und weg", sagt Wollersheim, "das ist inzwischen das Übliche bei uns". Aber er kennt noch viele Kollegen von früher und will den Kontakt aufrechterhalten: "Wir treffen uns auch jetzt zweimal im Jahr mit den heutigen Pensionären, und wir machen eine kleine Weihnachtsfeier!" Und viel im Sessel sitzen wird Michael Wollersheim auch nach dem 30. April 2011 nicht: "Ich habe ein eigenes Haus, da hat man immer Arbeit, da werde ich viel machen."


Autorin: Aya Bach
Redaktion: Ramón García-Ziemsen