1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Schule auf hoher See

Sabine Damaschke17. März 2014

Sechs Monate lang ist ihr Klassenzimmer ein Segelschiff, das sie über den Atlantik führt. Deutsche Schüler lernen Biologie am Korallenriff und Erdkunde an einem Vulkan. Das Auslandsprojekt soll fürs Leben schulen.

https://p.dw.com/p/1BPzS
Unterricht an Bord der "Thor Heyerdahl" (Foto: KUS-Projekt)
Bild: KUS-Projekt

Auf den Segelmast klettern, durch den Regenwald wandern, im Einbaum-Boot neben Naso-Indianern sitzen: Das alles entschädigt Silas Jurkat, wenn es mal wieder stürmisch auf der "Thor Heyerdahl" zugeht. Dann nämlich liegt der 16-jährige Schüler seekrank in seiner Koje. Seit Oktober überquert er mit 33 anderen Schülern aus ganz Deutschland auf dem Dreimasttollsegelschoner den Atlantik. "Auch wenn es mich ab und zu erwischt, würde ich nie auf diese Reise verzichten wollen." Im April endet die Fahrt – und Silas ist sich sicher, dass ihn schon bald das Fernweh packen wird.

Denn das zeigt die Erfahrung der anderen Jugendlichen, die bereits am Projekt "Klassenzimmer unter Segeln" (KUS) teilgenommen haben. Insgesamt sechsmal ist die "Thor Heyerdahl" für das 2008 gegründete Projekt der Universität Erlangen-Nürnberg in See gestochen. Jedes Jahr fahren 16 Seeleute mit fünf Lehrern und 34 Gymnasialschülern der 10. Klasse nach Teneriffa, Grenada, die Karibik, Panama, Kuba und die Azoren. Was nach Abenteuer klingt, ist zugleich harte Arbeit: Die Schüler sind Teil der Besatzung und müssen Segel setzen, Wache halten, Essen kochen, das Schiff steuern – und am Unterricht teilnehmen.

Lehrer werden zu Freunden

190 Tage und 12.000 Seemeilen auf engstem Raum - das erfordert gute Nerven, Teamfähigkeit, Kompromissbereitschaft und jede Menge Selbstdisziplin. "Manchmal ist man genervt vom ständigen Zusammensein in der Gruppe", gibt Zoe Gschossmann zu. "Aber wir reden hier über alles, statt uns beleidigt zurückzuziehen." Die anderen Jugendlichen sind für die 15-jährige Schülerin mittlerweile zu guten Freunden geworden. "Auch unser Umgang mit den Lehrern ist eher freundschaftlich."

Silas ölt unter Deck die Maschinen des Schiffs "Thor Heyerdahl" (Foto: KUS-Projekt)
Silas muss unter Deck die Maschinen ölenBild: KUS-Projekt

Für die Reise auf dem Segelschiff werden die Jugendlichen vom Unterricht an ihren Schulen befreit. Das Uni-Projekt, das wissenschaftlich vom Erlanger Institut für Pädagogik begleitet wird, erprobt neue Lern- und Unterrichtsformen an Bord und wertet sie aus. Es ist einem Schulbesuch im Ausland gleichgestellt, allerdings in der Regel deutlich teurer. Für die Kosten von 2700 Euro pro Monat müssen die Familien der Schüler alleine aufkommen. Dennoch sei KUS nicht nur etwas für die "Besserverdienenden", betont Projektleiterin Ruth Merk. Für jeden Törn werden Stipendien vergeben. Silas etwa hat ein Teilstipendium bekommen. "Und ich habe in einem Biergarten gearbeitet, um mir das Geld für die Fahrt zu verdienen."

Das Segelschiff als Spiegelbild der Gesellschaft

An Bord erhalten die Jugendlichen Unterricht in insgesamt zehn Fächern. Neben Biologie, Englisch oder Mathematik stehen auch astronomische Navigation, die Windsysteme und in Physik die Segeleigenschaften auf dem Programm. "Wir verstehen das Segelschiff als ein Spiegelbild der Gesellschaft im Kleinen", sagt Projektleiterin Ruth Merk. "Lebens-, Arbeits- und Lernraum fallen zusammen, und das ist natürlich eine besondere pädagogische Herausforderung." Ähnliche Initiativen gibt es laut Merk auch in Kanada, Schweden und den Niederlanden.

Rund 200 Jugendliche bewerben sich jedes Jahr für das "Klassenzimmer unter Segeln", 50 werden zu einem Casting eingeladen, 34 schließlich für die Reise ausgewählt. Neben Neugierde, Aufgeschlossenheit und Motivation werden auch gute Schulnoten verlangt, denn an Bord findet nur rund vierzig Prozent des üblichen Schulunterrichts statt. "Dennoch sind viele Jugendliche nach ihrer Reise sogar noch bessere Schüler", beobachtet Merk.

Lernen am Widerstand

Den Grund dafür sieht die Projektleiterin einerseits in den Herausforderungen, denen sie sich an Bord stellen müssen und die sie verantwortungsvoller und reifer machen. Andererseits bleibe vom Unterricht "mehr hängen", weil er ausgesprochen praxisbezogen sei. "Wenn die Schüler ein 400 Kilo schweres Segel nach oben ziehen müssten, erfahren sie das Prinzip eines Flaschenzuges am eigenen Leib." Um mit Seekarten navigieren zu können, müssten sie Kosinus- und Sinus-Funktionen anwenden können. Beim Schnorcheln an einem Korallenriff lernten sie die Artenvielfalt und das Ökosystem Ozean hautnah kennen.

Unterricht einmal anders

Ein weiteres wichtiges Unterrichtsziel sei das "Lernen am Widerstand", betont Merk. "In jedem Land erklimmen wir den höchsten Berg." Die Besteigung des über 3000 Meter hohen Volcán Barú in Panama war für Zoe das anstrengendste, aber auch schönste Naturerlebnis. Am folgenden Tag ist die ganze Gruppe in den Regenwald zu einem Camp der Naso-Indianer gewandert. Dort wurde dann gemeinsam auf offenem Feuer gekocht.

Neue Werte erfahren

"Das Essen spielt auf unserer Reise eine große Rolle", sagt Merk. "An Bord werden die Lebensmittel rationiert, deshalb gibt es nicht diesen Überfluss wie zuhause." Ein Riegel Schokolade sei plötzlich viel wichtiger als das coole T-Shirt. "So überdenken die Schüler ganz automatisch die eigenen Werte." Dazu trägt auch die Begegnung mit den Ureinwohnern und der zeitweise Aufenthalt in Gastfamilien in Grenada und auf Kuba bei.

Zoe am Steuer der "Thor Heyerdahl" (Foto: KUS-Projekt)
Ab und zu ist Zoe der Chef: Sie darf das Schiff steuernBild: KUS-Projekt

"Viele von uns sind sensibler geworden für Armut und soziale Ungerechtigkeit", meint Zoe. Auch sonst, so glaubt die Schülerin, habe sie sich verändert – genau wie ihre Geschwister, die vor ihr an der Reise teilgenommen hatten. "Man wird einfach selbstständiger und erwachsener."