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Schuften, Schläge, Schmerzen

Arne Lichtenberg10. Januar 2014

Ein russischer Arbeiter wurde auf den Olympia-Baustellen von Sotschi für einen Gastarbeiter gehalten. Eine Verwechslung mit fatalen Folgen. Eine Geschichte, die beispielhaft für das Leid einiger Gastarbeiter steht.

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Sotschi
Bild: DW/Arne Lichtenberg

Die Zähne sind ausgeschlagen, nur undeutlich kommen die Worte über die Lippen, der Blick ist leer. Mardiros Demertschan ist nicht mehr derselbe. Ein Teil von ihm ist im Mai 2013 gestorben. Bei dem Vorfall, der Demertschans Leben radikal veränderte.

Der Mann aus Abchasien, einer abtrünnigen Provinz Georgiens an der Grenze zu Russland, arbeitet im Frühjahr 2013 auf den Olympia-Baustellen von Sotschi. In den Unterkünften für die Polizisten und die Volunteers verlegt der ungelernte Arbeiter Stromleitungen und -verteiler auf den Etagen. 1500 Rubel bekommt er dafür pro Tag. Umgerechnet gut 30 Euro. Für den 38-Jährigen ist das ein guter Lohn. Doch schon nach zwei Monaten ist der Job wieder weg. Als Begründung bekommt er von seinem Vorgesetzten nur zu hören, er sei zu langsam bei der Arbeit. Dazu soll er auch nur die Hälfte seines vereinbarten Lohnes bekommen.

Mardiros Demertschan (Foto: DW)
Mardiros Demertschan - noch heute kämpft er dem den Folgen der FolteraktionBild: DW/Lars Spannagel

Doch das ist nur der Anfang des Desasters. Der vierfache Familienvater, der mit seiner Frau und Kindern seit Jahren in Sotschi lebt, wird des Diebstahls bezichtigt. Er soll Stromkabel geklaut haben. Demertschan streitet die Straftat ab, er will nicht für die Tat eines anderen büßen, weil er unschuldig ist. Zwei Wochen nach der Kündigung bestellt man den Arbeiter unter einem Vorwand in ein Lager. Andere Arbeitskollegen würden dort auf ihn warten, es gebe etwas zu besprechen. Am Treffpunkt empfangen Demertschan ehemalige Arbeitskollegen und einige Unbekannte. Es gibt eine Ansprache, dann die Frage: Wer von den Versammelten hat Stromleitungen von der Baustelle entwendet? Als Demertschan wieder verneint, bekommt er Handschellen angelegt und wird zur Polizeistation im Stadtteil Adler geschleppt.

Boxhandschuhe über den Knöcheln

"Man hat uns dann in unterschiedliche Zimmer gebracht", berichtet Demertschan kühl. Man setzt ihn auf einen Stuhl. "Dann haben die beiden Polizisten, die bei mir im Raum waren, mich angeschrien: Einer von Euch muss die Schuld auf sich nehmen", fährt er fort. Dabei streifen die beiden Boxhandschuhe über ihre Fäuste. "Da habe ich verstanden, dass sie mich schlagen werden". Die Schläge prasseln auf den 38-Jährigen ein, schnell verliert er das Bewusstsein. Doch das Martyrium ist noch nicht zu Ende.

"Dann haben sie mich mit kaltem Wasser bespritzt. Kurze Zeit später bin ich wieder wach geworden", sagt der Arbeiter. Dann hätten sie ihn ohne Boxhandschuhe traktiert. "Erneut fragten sie mich: Wirst Du das jetzt sagen, dass Du es getan hast oder nicht?" Demertschan muss eine mehrstündige Folteraktion über sich ergehen lassen. Als er mental und körperlich völlig am Ende ist, setzt er seine Unterschrift unter ein Papier, indem er den ihm vorgeworfenen Diebstahl zugibt. Nur mit Glück gelingt es ihm seine Familie zu informieren. Die eilt zur Polizeistation und schafft es mit Mühe ihn in ein Krankenhaus transportieren zu lassen. Demertschans Familie vermutet, dass er auf der Baustelle für einen Gastarbeiter gehalten wurde. Eine verhängnisvolle Verwechslung.

Drei Arbeiter auf den Baustellen von Sotschi (Foto: DW)
Zehntausende Gastarbeiter sind auf den Baustellen von Sotschi aktivBild: DW/Arne Lichtenberg

Überall Schmerzen und täglich Tabletten

Noch heute leidet der Familienvater unter der Folteraktion. Der Rücken schmerzt, der Kopf auch, fast den ganzen Tag muss er liegen. Täglich schluckt er viele Tabletten. An Arbeit ist nicht zu denken. Ein Rechtsanwalt hat sich seines Falls angenommen. Demertschan hofft, dass diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden, die ihm das angetan haben. Für Olympia in Sotschi hat er keinen Gedanken mehr übrig. "Ich habe eigene Probleme."

Einigen Gastarbeitern in Sotschi ist es ähnlich ergangen. Semjon Simonow von der russischen Menschrechtsorganisation Memorial betreibt seit Juni 2012 ein Büro in Sotschi. Er kümmert sich um die Belange der Gastarbeiter. Zu Anfang hatte er noch nicht viel zu tun. Kaum jemand wusste von der Existenz der Einrichtung. Er musste aktiv Werbung machen, Flyer verteilen, auf die Baustellen gehen. Seitdem hat sich vieles geändert.

Olympia hätte Wendepunkt sein können

Im Jahr 2013 hatte er 80 Fälle zu behandeln, in denen insgesamt 1500 Gastarbeiter involviert waren. In den meisten Fällen sind die Gastarbeiter für die groben Arbeiten zuständig, die Löhne sind schlecht, meist gibt es keine Arbeitsverträge. Die meisten von ihnen kommen dabei aus Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, Kasachstan, Kirgisien, aber auch aus der Ukraine, Weißrussland und Moldawien. Vor ein paar Jahren hatte Simonow noch die Hoffnung gehabt, dass sich durch Olympia in Sotschi, die Situation der Arbeitsmigranten grundlegend ändert. "Man hatte uns versprochen, dass in Sotschi mit festgenommenen Migranten alles nach Recht und Ordnung ablaufen sollte. Aber das Gegenteil ist eingetreten", sagt er bitter. Der Traum vom Durchbruch bei den Spielen ist zerplatzt wie eine Seifenblase. "Stattdessen hatten wir Fälle von geprellten Löhnen, von Dokumenten die einbehalten wurden und wir hatten sogar Fälle von Körperverletzungen."

Semjon Simonow, Mitarbeiter der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial in Sotschi (Foto: DW)
Semjon Simonow: "Ohne Gastarbeiter kommt Russland nicht aus"Bild: DW/Jürn Kruse

Die Probleme mit den Gastarbeitern in Russland haben ihren Ursprung in der Fremdenfeindlichkeit die im Land herrscht. Viele Russen sind sehr patriotisch, gegenüber Ausländern gibt es Vorurteile. Dabei ist die russische Bevölkerung auf Zuwanderung angewiesen. In den meisten Städten herrscht Vollbeschäftigung. Russland steht vor ähnlich großen demografischen Herausforderungen wie Deutschland. Die Geburtrate liegt seit Jahren bei 1,5 Kindern pro Frau. Das belegen Zahlen der Weltbank. "Ohne Gastarbeiter kommt Russland nicht aus, jedes großes Bauprojekt in Russland findet mit Gastarbeitern statt", sagt der 30-Jährige. Die Bauherren würden oft versuchen einen Teil der Kosten zu sparen und bei den Löhnen könne man eben gut die Kosten drücken. "Das Weltwirtschaftsforum in Wladiwostok, die Universiade in Kazan oder große Baustellen Moskau, überall sind Gastarbeiter beteiligt", sagt der Aktivist.

Bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ist der Fall Mardiros Demertschan übrigens bekannt, die Experten der Organisation halten seine Geschichte für glaubwürdig. Es wäre eines der traurigsten Kapitel im Schatten der Olympischen Winterspiele.