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Islamisten im Schock

Matthias Sailer10. Juli 2013

Nachdem das Militär 50 Islamisten auf einer Pro-Mursi-Demonstration erschossen hat, sind viele Betroffene im Schock. Die Muslimbrüder versuchen, das Blutbad für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

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Anhänger von Mohammed Mursi halten Plakate des gestürzten ägyptischen Präsidenten hoch (Foto: AFP/MAHMUD HAMS)
Anhänger von Mohammed Mursi halten Plakate des gestürzten ägyptischen Präsidenten hochBild: MAHMUD HAMS/AFP/Getty Images

Die Stimmung auf dem Protestgelände der Islamisten ist ruhiger als noch vor zwei Tagen. Soldaten der ägyptischen Armee haben am Montagmorgen mindestens 50 Islamisten nahe dem Gelände erschossen. Auch ein Soldat starb.

Seitdem sind die Demonstranten nachdenklich, traurig, aber auch tief verbittert. Symbolisch tragen einige von ihnen einen Holzsarg auf die Rednerbühne. Ein Sprecher sagt, dass jetzt die wahre Revolution beginne. Safwat Higasi, ein bekannter Fundamentalist, verkündet, dass sie über den an diesem Mittwoch (10.07.2013) beginnenden Fastenmonat Ramadan hinaus auf dem Gelände kampieren werden. Er fügt entschlossen hinzu: "Märtyrer, wir werden ihnen Wut und Zorn zeigen und ihnen Manieren beibringen." Verteidigungsminister Al-Sisi sei wie Syriens Baschar Al-Assad: Assad bombardiere Moscheen und Al-Sisi schieße auf Betende.

Es ist eine Anspielung darauf, dass das Militär die Islamisten angeblich beim Beten erschossen haben soll. Fast alle Demonstranten hier vertreten diese Position. Überhaupt trennen die Demonstranten kaum zwischen politischen und religiösen Argumenten. Mohamed Sherif zum Beispiel sieht die Demonstration als von Gott gewollt: "Wir sind hier wegen Gott. Nicht um irgendwelche Ergebnisse zu erzielen. Alle unsere Bemühungen dienen nur der gerechten Sache, dem Willen Gottes. Am Ende werden wir siegreich sein."

Soldaten der Armee versperren den Zugangsweg zu einem Stützpunkt der Republikanischen Garde (Foto: DW / Matthias Sailer)
Militär in KairoBild: DW / Matthias Sailer

Propagandalügen der Muslimbrüder?

Mohamed kampiert mit anderen befreundeten Mitgliedern der Muslimbruderschaft unter einem an Holzstangen befestigten Zelttuch. Ein junger Müllsammler mit einem blauen Müllsack geht am Zelt vorbei und ruft: "Wer hat noch Müll für den Verteidigungsminister? Müll für Al-Sisi?" Die Muslimbrüder lachen und stopfen ihren Abfall in den Sack. Mohamed ist sehr freundlich und bietet seinen Gästen Datteln und Wasser an. Was er sagt, sagen so oder ähnlich die allermeisten Muslimbrüder: Die demonstrierenden Islamisten seien alle friedlich, keiner von ihnen habe Waffen und es seien auch fünf Kinder erschossen worden.

Doch der Verdacht der Propagandalüge liegt nahe. Nach dem Attentat veröffentlichten die Muslimbrüder Fotos toter Kinder, die angeblich vom Militär erschossen wurden. Tatsächlich handelte es sich jedoch um Fotos aus Syrien. Bis heute ist nicht klar, ob überhaupt Kinder erschossen wurden. Auch dass die Islamisten alle unbewaffnet gewesen seien, ist unglaubwürdig, wenn man im Internet kursierende Videos der Ereignisse analysiert.

So ist es nur konsequent, dass Mohamed auch die von der Muslimbruderschaft herausgegebene Aufforderung zum Aufstand verharmlost und von einem "friedlichen Aufstand" spricht. "Sie haben die Menschen zum Aufstand aufgefordert, weil es der einzige Weg für die Menschen ist, ihre Rechte zu bekommen. Ein friedlicher Aufstand. Deswegen rufen wir die Menschen dazu auf."

Wut über das Blutbad des Militärs

Doch die Propaganda der Muslimbrüder kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es das Militär war, das die 50 Islamisten erschossen hat. Es ist nicht das erste Mal seit der Revolution 2011, dass die Armee derartige Gewalt gegen Zivilisten angewendet hat. Doch die Zahl der Toten übertrifft alles bisher dagewesene. Und die Wut der Islamisten ist groß. An der Verbindungsstraße zwischen dem Protestgelände und der Kaserne der Republikanischen Garde, vor der die Demonstranten starben, lassen viele von ihnen ihrer Wut freien Lauf. Die Straße grenzt an eine Einrichtung des Verteidigungsministeriums. Immer wieder sieht man Islamisten, die an der Straße stoppen und die hinter einer Mauer positionierten Wachsoldaten laut anschreien.

Ein Mann knöpft sein Hemd auf und brüllt: "Warum tragt ihr kugelsichere Westen und Gewehre? Schaut her, wir haben keine Waffen!" Sein Nebenmann springt ihm bei und schreit: "Das müsst ihr mit Gott ausmachen!" Seine Stimme überschlägt sich und er zittert, als andere Passanten ihn zu beruhigen versuchen, ihm sagen, es solle nicht noch mehr Blut vergossen werden. Am Ende der Straße steht inzwischen eine Steinmauer, die die Demonstranten von der Armee trennen soll.

Ägypten hat neuen Interims-Präsidenten

Tawfiq hat den blutigen Montag miterlebt. Er umgeht die Trennmauer, die von Demonstranten belagert ist, und zeigt an eine Stelle an der Straße: "Die Menschen haben zu beten angefangen, in der Hoffnung, dass sie dann aufhören würden zu schießen. Aber sie haben nicht aufgehört. Ich schwöre, dass ich das mit eigenen Augen gesehen habe: Ich habe gebetet. Sieben haben hinter mir gekniet. Dann wurde wieder geschossen. Als ich mich umdrehte, waren zwei in den Rücken getroffen."

Tawfiq ist sichtlich mitgenommen. Er deutet auf Einschusslöcher in den Wänden und auf zwei angrenzende Gebäude, von denen aus Scharfschützen geschossen hätten. Er beschreibt die Vorgänge detailliert. Am Ende läuft er mitten in die leere Pufferzone zwischen der Trennmauer und den Soldaten hinter Stacheldraht, um seine Beschreibungen fortzusetzen. Er habe keine Angst mehr, sagt er mit harten Gesichtszügen.