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Schmetterlinge mit verkrüppeltem Erbgut

Judith Hartl16. August 2012

Radioaktivität hat viele Schmetterlinge in Fukushima entstellt. Forscher befürchten, dass es auch bei den Menschen dort zu einem Anstieg von Fehlbildungen und Krankheiten wie dem Down-Syndrom kommen könnte.

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Durch Radioaktivität verkrüppelter Schmetterling (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Die kleinen Schmetterlinge, um die es geht, gehören zur Familie der Bläulinge. Es gibt sie überall auf der Welt. Auf Veränderungen in ihrer Umwelt - auf Wasser- und Luftverschmutzung, Chemikalien oder auf Radioaktivität - reagieren sie äußerst sensibel. Für Wissenschaftler sind Bläulinge deswegen so etwas wie Bioindikatoren. Werden sie krank, heißt das, es stimmt etwas im gesamten Ökosystem nicht - auch wenn in diesem Moment noch keine Schäden offensichtlich sind, sagt Winfrid Eisenberg, Strahlenexperte der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW). "Mich wundern die Beobachtungen der japanischen Forscher nicht", betont er, "nach Tschernobyl gab es ähnliche Ergebnisse".

Missgebildete Wanzen, Mäuse, Vögel

Damals wurden bei Blattwanzen ähnliche Deformierungen wie bei den Schmetterlingen aus Fukushima gefunden. Aber nicht nur, sagt Eisenberg. Auch heute noch - in der mittlerweile 52. Generation seit der Tschernobyl-Katastrophe - finden Forscher im Erbgut von Feldmäusen rund 100 Mal mehr Mutationen als bei Mäusen in unverseuchten Gebieten. Oder Schwalben: Die sind in der Gegend um Tschernobyl so gut wie ausgestorben, meint Winfrid Eisenberg. "Sie haben über Generationen hinweg ungewöhnlich kleine Köpfe und sehr geringe Aufzuchtserfolge."

Dass Gendefekte von Generation zu Generation weitergegeben werden, gilt nicht nur für Tiere. Neun Monate nach Tschernobyl häuften sich die Fälle von Trisomie 21 (Down-Syndrom). Bei dieser Krankheit ist das Chromosom 21 dreifach ("tri") vorhanden anstatt, wie bei gesunden Menschen, nur doppelt. Auch die Zahl der Fehlbildungen, Fehlgeburten und Schwangerschaftsabbrüche aufgrund schwerer Gendefekte soll in dieser Zeit außergewöhnlich hoch gewesen sein - nicht nur in den Regionen um Tschernobyl. Insgesamt, so steht es im Bericht der Gesellschaft für Strahlenschutz, sollen europaweit zwischen 18.000 und 122.000 Menschen durch die Strahlung von Tschernobyl genetisch geschädigt sein.

Winfrid Eisenberg, Strahlenexperte bei IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs) Foto: IPPNW)
Winfrid Eisenberg befürchtet, dass die verkrüppelten Schmetterlinge nur ein erster Alarm sindBild: Xanthe Hall, IPPNW

Schon leichte Strahlung kann gefährlich sein

Wie hoch die Strahlung sein muss, bis es zu einem genetischen Defekt kommt, ist nicht klar abgrenzbar. Grundsätzlich belastet jede Art und Dosis radioaktiver Strahlung biologische Zellen, sagt Peter Jacob, Leiter des Instituts für Strahlenschutz am Helmholtz-Zentrum in München. Schon sehr niedrige Strahlendosen können Schaden anrichten.

Aber menschliche Zellen besitzen auch einen erstaunlich wirksamen Abwehrmechanismus, den sie sich im Laufe der Evolution antrainiert haben: Kommt es bei der Zellteilung zu Mutationen, sorgen bestimmte Enzyme dafür, dass die meisten Fehler repariert werden. Doch eine Notreparatur nach einer kurzfristigen Strahlenexposition kann in einer Zelle weitere Mutationen verursachen, die dann an die nächste Zellgeneration weitergegeben werden. Dadurch kann über längere Zeit Krebs entstehen. Ereignet sich eine Mutation zufällig in Spermien oder Eizellen, kann sie selbst noch nach Generationen für ein erhöhtes Krankheitsrisiko sorgen.

Missgebildete Schmetterlinge schüren die Angst vor Krankheiten

Eine Studie des UNO-Komitees zu den Auswirkungen atomarer Strahlung (UNSCEAR) ergab, dass die Zahl der Schilddrüsenkrebs- und Leukämiefälle in Japan durch den Reaktorunfall nicht signifikant steigen wird. Doch die verkrüppelten Schmetterlinge sprechen für sich, auch wenn sich Studien an Tieren nicht einfach so auf den Menschen übertragen lassen, sagt IPPNW-Strahlenexperte Winfrid Eisenberg.

Bei Ultraschall-Untersuchungen der Schilddrüsen von über 40.000 Kindern in Japan seien bei 35 Prozent Knoten und Zysten festgestellt worden. "Das gibt es bei Kindern normalerweise nicht", versichert der Kinderarzt, das sei alarmierend. Gemeinsam mit einigen Kollegen beantragte er von Japan Einsicht in die Geburtenstatistik für die Zeit nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Bislang sei sie ihm nicht gewährt worden, "aber das muss kein böser Wille sein", sagt Eisenberg.