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"Schlepper verkaufen Hoffnung"

Christoph Hasselbach28. August 2015

Nach der Tragödie in Österreich wollen sich die Europäer auf die Bekämpfung der Schleuserbanden konzentrieren. Warum ihnen das so schwerfällt, erklärt Andrea Di Nicola, Kriminologe an der Universität Trient.

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Polizist vor dem LKW, in denen tote Flüchtlinge gefunden wurden Foto: picture-alliance/dpa/H. Oczere
Bild: picture-alliance/dpa/H. Oczeret

DW: Herr Di Nicola, nach dem grausigen Leichenfund in dem Lastwagen in Österreich sind wir alle schockiert. Aber überraschend ist das nicht, oder?

Andrea Di Nicola: Nein, das ist keineswegs überraschend. Das ist nur eine der Routen, die die Menschenschmuggler nehmen. Das Problem ist: Während wir uns auf das Mittelmeer konzentriert haben, sind die Schmuggler ihrem Geschäft nachgegangen und haben neue Routen gewählt. Wir haben es mit einem riesigen kriminellen Geschäft zu tun, und es funktioniert über Land, über das Meer und auch über Luftwege.

Wenn die Polizei jetzt sagt, sie habe drei Schmuggler in Ungarn festgenommen - glauben Sie das? Sind das wirklich die Organisatoren?

Ich weiß nicht, ob die drei Festgenommenen die Anführer waren oder nur ganz unten standen. In diesem Geschäft arbeiten verschiedene kriminelle Gruppen verschiedener Größe zusammen, und das alles ist ständig in Bewegung. Aber was wir wissen, ist: Wenn wir Schmuggler an der Grenze festnehmen, dann sind das die kleinen Fische. Die großen Fische bleiben im Hintergrund. Wenn wir also einen Fahrer festnehmen und verurteilen, können wir nicht von einem großen Erfolg sprechen.

Wir haben es hier mit einem großen Geschäft zu tun. Kann man sagen, wieviele Menschen geschmuggelt und welche Geldsummen verdient werden?

Die Vereinten Nationen gehen von zehn Milliarden Dollar aus. Wir schätzen aufgrund unserer Forschung, dass allein durch die Mittelmeerroute sechs- bis achthunderttausend Dollar verdient werden. Und wir reden über Tausende und Abertausende von "Kunden" - entschuldigen Sie diesen Ausdruck, aber die Schmuggler, mit denen wir gesprochen haben, sprechen von Kunden.

Der Kriminologe Andrea Di Nicola (Foto: privat)
Der Kriminologe Andrea Di NicolaBild: privat

Das ist das richtige Stichwort. Politiker neigen dazu, von menschenverachtenden Schleusern zu sprechen, denen das Leben der Flüchtlinge egal sei. Aber die Flüchtlinge brauchen die Schleuser, um nach Europa zu kommen, sie sind die Kunden, nicht wahr?

Genau das ist das Problem. Wir haben mit Flüchtlingen und Schleusern gesprochen. Der Schmuggler sagt: "Ich bin der einzige, der diesen armen Menschen hilft. Ich verkaufe Träume. Ich verkaufe Hoffnung. Ich weiß, dass manche von ihnen sterben, aber sie haben nur mich." Und wenn Sie mit Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten sprechen, sagen sie: "Wenn ich zu Hause bleibe, sterbe ich. Nur wenn ich die Dienste dieses Schleusers nutze, habe ich eine Chance. Ich weiß, ich kann dabei sterben, aber es ist besser, ich sterbe bei der Überfahrt als zu Hause. Mein Agent ist ein guter Mensch." Ich bestreite nicht, dass das ein gewalttägiges Geschäft ist und dass die Schleuser Verbrecher sind. Aber entscheidend ist: Das ist ein Markt, der von einer enormen Nachfrage verzweifelter Menschen befeuert wird.

Das Problem mit den Flüchtlingen ist, dass sie zwar ein Recht haben, in unseren Ländern Asyl zu beantragen. Doch selbst, wenn sie asylberechtigt sind, nutzen sie die Dienste der Schleuser. Das ist etwas, was wir überprüfen müssen. Wir brauchen eine Vision, wir brauchen etwas Neues. Denn während wir diskutieren, geht das weiter, und wir haben keine Zeit mehr fürs Diskutieren.

Aber was kann Europa tun, denn wir können ja nicht einfach die Grenzen für jeden öffnen?

Wir tun im Moment nicht viel. Die Schleuser nutzen die Langsamkeit und Schwäche Europas aus. Als wir mit Schleusern gesprochen haben, haben sie über Europa gelacht. "Eure Mauern sind unsere Geschäftsmöglichkeiten", haben sie gesagt. Ich sage nicht, dass wir die Grenzen öffnen sollten, aber es gibt eine Grauzone zwischen "Alles öffnen" und "Alles schließen".

Verstehe ich Sie richtig, dass Sie einerseits Schlupflöcher schließen, aber für manche Flüchtlinge den Weg nach Europa einfacher machen wollen?

Ja. Die Leute, die ein Recht haben, nach Europa zu gehen, werden es tun. Wir werden denen Asyl geben, die einen Anspruch darauf haben.

Sie meinen zum Beispiel Syrer?

Ja, Syrer, Eritreer, Somalier, Afghanen. Die haben Asyl verdient und bekommen es auch. Trotzdem nehmen sie die Dienste der Schmuggler in Anspruch. Warum graben wir bei dieser Gruppe den Schleusern nicht das Wasser ab und machen ihnen das Geschäft kaputt?

Und was soll man mit den Wirtschaftsflüchtlingen tun?

Ich weiß, das ist politisch schwieriger. Aber hier gibt es eine Reihe kleiner Schritte, die eigentlich groß sind. Ein politisches Problem ist, dass es keine gemeinsame europäische Migrationspolitik gibt. All diese Flüchtlinge sind eigentlich nicht viele, verglichen mit der Gesamtbevölkerung Europas. Trotzdem sprechen viele von einem Exodus. Das stimmt einfach nicht. Wir können mit diesem Problem fertig werden, wenn wir es gemeinsam angehen. Wir brauchen eine Vision. Das bedeutet nicht, dass wir alle hereinlassen. Das wird sowieso nicht passieren. Aber nichts zu tun, ist genau das, was die Menschenschmuggler wollen.

Andrea Di Nicola ist Kriminologe an der Universität Trient in Oberitalien und hat intensiv zum Thema Menschenschmuggel geforscht.

Das Gespräch führte Christoph Hasselbach.