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'Stuhlgang der Seele'

10. Juni 2009

"Wer schimpft, hat Unrecht", sagt der Volksmund. Volksvertreter scheint das wenig zu kümmern. In 60 Jahren Bundesrepublik haben sie immer wieder gerne zum verbalen Holzhammer gegriffen, um ihre Meinung durchzusetzen.

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Herbert Wehner (Foto: dpa)
Herbert Wehner (1975)Bild: picture-alliance/ dpa

Zimperlich sollte man besser nicht sein, wenn man ein Bundestagsmandat annimmt. Giftige Verbalattacken am Arbeitsplatz gehören für Abgeordnete so selbstverständlich mit zum Beruf wie ihre Diäten. Von donnernden Drohungen ("Von mir hätten Sie rechts und links ein paar hingekriegt") bis zu pikanten Tiervergleichen ("Wühlratte", "Übelkrähe", "Mops aus Mainz") und gewagten historischen Vergleichen ("Sie sind die Nazis von heute") ist quer durch alle Fraktionen alles zu finden. 600 gedruckte Manuskriptseiten füllen die Schimpfkanonaden aus 60 Jahren Bundestag mittlerweile (für eine Auswahl siehe Link unten: "Wollt Ihr die totale Blödheit?").

Franz Josef Strauß, hier auf einem Parteitag, verzichtete im Bundestag weitgehend auf Beschimfpungen (Foto: dpa)
Franz Josef Strauß, hier auf einem Parteitag, verzichtete im Bundestag weitgehend auf BeschimfpungenBild: picture-alliance/ dpa

"Schimpf, auch der parlamentarische, ist eine Art Stuhlgang der Seele", diagnostiziert Günter Pursch, langjähriger Bundestagsmitarbeiter und Redakteur der Wochenzeitung "Das Parlament", der das gesamte Gezeter im Bundestag dokumentiert und herausgegeben hat. Dabei hat er auch die schöne Kehrseite der Bosheiten entdeckt: "Abgeordnete arbeiten hier - spontan und abseits des Manuskripts - besonders kreativ mit der Sprache."

Rhetorischer Freistil

Einer, der diesen rhetorischen Freistil mit am besten beherrscht hat, war der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner. Auf dessen Konto geht auch eine der bekanntesten Schmähungen, die ihm am 16. Februar 1978 bei einem Scharmützel mit Philipp Jenninger (CDU/CSU) entfuhr. "Mann, hampeln Sie doch nicht so herum", bellte es nach mehreren Zwischenrufen vom Rednerpult auf die Oppositionsbank herab. "Sie sind doch Geschäftsführer und nicht Geschwätzführer".

Der "Zuchtmeister" der Sozialdemokraten nutzte solche Ausbrüche aber nicht nur als emotionales Ventil, wie Tiraden-Sammler Pursch erklärt: "Wehner konnte so alle Pfeile auf sich ziehen, insbesondere, wenn es der SPD nicht besonders gut ging. Dann war die Auseinandersetzung um die Sache weg, und alles kümmerte sich nur noch um ihn". Der Germanist Kai Bremer, der an der Uni Gießen zur Geschichte der Polemik und des Schimpfen forscht, geht noch einen Schritt weiter: "Alle Abgeordneten, die überzeugend schimpfen können, tun dies meist nicht im Reflex, sondern gut kalkuliert – um etwa für die eigene Fraktion Stimmungsmache zu betreiben, ein Fünkchen Aufmerksamkeit zu bekommen oder einfach um die Debatte zu verschärfen."

Wer bestimmt den Ton?

Was sich parlamentarisch ziemt und was nicht, entscheidet bis heute der Bundestagspräsident. Nicht selten versuchen die Abgeordneten hier aber ein Wörtchen mitzureden, im folgenden Fall sind es wieder Wehner und Jenninger (28.11.79). Wehner: "Wenn hier fortgesetzt von Ihrer Partei versucht wird, einen anzupinkeln, wehrt man sich." Jenninger: "Ist das parlamentarisch: "Pinkeln"?"

Ottmar Schreiner gehört zu den aktivsten Schimpfern (Foto: dpa)
Ottmar Schreiner gehört zu den aktivsten SchimpfernBild: AP

Dramatische Konsequenzen brauchen Schimpfer im Bundestag nicht zu fürchten, "alles, was im Bundestag passiert, ist nicht gerichtsverwertbar", so Pursch. Die Höchststrafe ist der Ordnungsruf, eine Art gelbe Karte im Plenarsaal. Drei von ihnen, und der Gerügte muss für den Rest der Debatte schweigen. Unangefochtener Rekordhalter in Sachen Ordnungsrufe, man ahnt es schon: "Onkel" Wehner, wie ihn seine Parteigenossen liebevoll nannten. Er kam im Bundestag auf beachtliche 57 Verwarnungen. Hinter ihm landen Heinz Renner (KPD) mit 47 und Ottmar Schreiner (SPD) mit 40. Der ebenfalls als Schimpfer verschrieene Franz Josef Strauß (CSU) hat übrigens nur einen Ordnungsruf erhalten.

Schimpfklima im Wandel

Und wie hat sich das parlamentarische Schimpfen in 60 Jahren Bundesrepublik verändert? "Die Tendenz ist stark abfallend", so Pursch, "in der ersten Wahlperiode gab es gab es noch 159 Ordnungsrufe, in der jetzt zu Ende gehenden habe ich sage und schreibe fünf gefunden". Selbst im derzeitigen Wahlkampf bleibe es relativ ruhig. Schwankungen im verbalen Klima habe es aber natürlich auch gegeben, je nach Regierungs- und Parlamentszusammensetzung. Die Grünen etwa mischten das Hohe Haus 1983 bei ihrem Einzug besonders heftig auf. Pursch: "Die haben sich in ihrer ersten Wahlperiode kräftig daneben benommen. Allein Joschka Fischer kam in zwei Jahren auf 12 Ordnungsrufe." Und auch der hat am 18.10.1984 einen großen Schimpf-Klassiker geprägt: "Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch."

Einen Grund für den Rückgang des Schimpfens sieht Pursch in der Entwicklung der Sprache: "In den siebziger Jahren wurde etwa das Wort "geil" noch gerügt. Heute ist es allgemeiner Sprachgebrauch und wird auch im Bundestag nicht mehr gerügt." Auch die Architektur des Plenarsaals könnte eine Rolle spielen: "Der Bonner Saal war mit seinen schwarzen Stühlen und grünen Polstern recht düster, die Abgeordneten saßen nah aufeinander, da ging es hoch her". Der weiträumige Berliner Bundestag wirke mit seiner luftigen Kuppel doch wesentlich beruhigender.

Im internationalen Vergleich: Zahm

Zudem habe die Qualität des Schimpfens stark gelitten, beobachtet indes Bremer: "In der Blütezeit des Schimpfens, der Bonner Republik, wurde gelehrter geschimpft, weil Abgeordnete wie Strauß, Wehner oder Brandt rhetorisch besser ausgebildet waren und mehr dramaturgisches Geschick besaßen." Heute seien andere Fähigkeiten zu beobachten: "Man versteckt sich hinter den Argumenten von Wissenschaftlern und vermeidet so die Auseinandersetzung und eine gewisse Intensität des Schimpfens."

Prügelei im bolivianischen Parlament im August 2007 (Foto: dpa)
Prügelei im bolivianischen Parlament im August 2007Bild: picture-alliance/ dpa

Im internationalen Vergleich sind die Bundespolitiker recht zahm. Anders als etwa in Italien oder einigen asiatischen und afrikanischen Parlamenten, so Pursch, ist Schimpfen hierzulande keine Ouvertüre zur Plenarsaal-Prügelei. Und dennoch: Risiken und Nebenwirkungen sind nicht ausgeschlossen, wie eine Auseinandersetzung zwischen Hans-Jochen Vogel (SPD) und Wolfgang Bötsch (CDU/CSU) am 24.11.1987 zeigte.

Vogel: "Nehmen sie diesen Herrn nicht ernster, als es unbedingt sein muss. Er hat einen ziemlich hohen Blutdruck, und wir müssen auch ein bisschen für seine Gesundheit Sorge tragen"

Bötsch: "Da sind sie aber sehr im Irrtum! 110:70!"

Vogel: "Ja, das ist immer am Anfang des Tages. Wenn Sie sich hier aber so aufregen, sind die Werte viel höher. Seien Sie vorsichtig, Herr Bötsch."

Autor: Bastian Strauch

Redaktion: Dеnnis Stutе