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Schicksalswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland

Torsten Gellner22. Mai 2005

Am Sonntag wird in Nordrhein-Westfalen gewählt. Wird die rot-grüne Regierung abgewählt, könnte das auch das Ende für die Bundesregierung sein. Doch trotz guter Umfragewerte hat die CDU den Sieg noch nicht in der Tasche.

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Jürgen Rüttgers von der CDU: Wird er der neue Ministerpräsident?Bild: AP

Das derzeitige Lieblingsspiel der CDU dürfte Domino sein. Denn nach der geglückten Regierungsübernahme in Schleswig-Holstein greift die Union nun nach Nordrhein-Westfalen. In dem bevölkerungsreichsten Bundesland regiert unter Ministerpräsident Peer Steinbrück die letzte rot-grüne Landesregierung. Sein Herausforderer Jürgen Rüttgers (CDU) möchte mit der Wahl am kommenden Sonntag (22.5.05) dem rot-grünen Projekt endgültig den Todesstoß versetzen. Denn, wenn NRW fällt, so die Berechnung, dann kann sich Rot-Grün auf Bundesebene nicht mehr in eine dritte Amtszeit retten.

Die Union hat bei ihrer Dominotheorie die Politologen auf ihrer Seite: Schon mehrmals war das Bundesland eine Art Seismograph für die Bundespolitik, heißt es. "Neue Mehrheitsverhältnisse oder neue politische Bündnisse gingen oft von Düsseldorf aus", meinte etwa der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte im ZDF.

Probleme im roten NRW

Seit nunmehr 39 Jahren ist die SPD in ihrem traditionellen Stammland an der Macht - fast schon bayerische Verhältnisse mit umgekehrten Vorzeichen. Ein Verlust der Regierungsmehrheit wäre nicht nur ein gewaltiger Kulturschock für die "alte Tante SPD". Die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat würden auch die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung noch weiter als bisher einschränken.

Subventionen Steuer Bergbau
Streitpunkt Steinkohle-Subvention. Beide wollen raus, der eine früher, der andere späterBild: AP

Das Land kämpft seit geraumer Zeit mit gewaltigen Problemen. Eine hohe Staatsverschuldung, über eine Millionen Arbeitslose, ein unterdurchschnittliches Wirtschaftswachstum - Folgen eines missglückten Strukturwandels. Während in Bayern und Sachsen neue, zukunftsträchtige Industrien angesiedelt werden konnten, tut sich das Ruhrgebiet, das ehemalige industrielle Herz der Republik, schwer mit der Modernisierung. In den 1950er Jahren arbeiteten noch eine halbe Million Menschen im Steinkohlebergbau, heute sind es nur noch rund 30.000.

Hinzu kommt ein demografisches Problem, das zu einem Migrationsproblem werden könnte. Schon bald, prognostizieren Sozialwissenschaftler, werden Migranten die Mehrheit der Stadtbevölkerung im Pott stellen. Deren Kinder sind häufig schlecht ausgebildet - keine guten Vorzeichen für den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft, auf den die rot-grüne Regierung hinarbeitet.

Rosarote Brille oder Schwarzmalerei?

Es ist aber nicht alles so schlecht, wie es die CDU gerne zeichnet, meint Rot-Grün. In der Landeshauptstadt Düsseldorf, in Köln, in Bonn, im Rhein-Sieg-Kreis herrscht eine vergleichsweise geringe Arbeitslosigkeit. Moderne Telekommunikations- und Medienunternehmen haben sich hier erfolgreich angesiedelt. 350.000 neue Arbeitsplätze sollen hier in den letzten Jahren entstanden sein, so die Landesregierung.

SPD setzt aufs letzte Rededuell
Ministerpräsident Steinbrück (links) und Jürgen Rüttgers: Shakehands vorm TV-DuellBild: AP

Doch der Union ist das nicht genug. Im jüngsten TV-Duell zwischen Herausforderer Jürgen Rüttgers und Titelverteidiger Peer Steinbrück forderte der CDU-Mann einen raschen Abbau der Steinkohle-Subventionen und verlangte, dass in Zukunft für weniger Geld mehr gearbeitet wird. Außerdem warf er der SPD vor, mit ihrer unlängst losgetretenen Kapitalismusdebatte Investoren zu verschrecken. Steinbrück verwahrte sich gegen die Vorwürfe und verwies auf die positiven Erfolge seines Landes. "Wenn ich als Ministerpräsident nicht alles rosarot male, dann glauben Sie auch nicht denen, die alles schwarz in schwarz malen", appellierte er an die Zuschauer des zweiten TV-Duells.

Den jüngsten Umfragen zufolge könnte der CDU diesmal tatsächlich der Wechsel gelingen. Zusammen mit der FDP käme die CDU demnach auf 51 Prozent, Rot-Grün müsste mit nur 44 Prozent der Stimmen die Ministersessel räumen.

Lesen Sie im zweiten Teil, wer gegen wen antritt und wer mit wem koalieren will!

Steinbrück: Popularität nach Startproblemen

Doch da ist noch Peer Steinbrück, der amtierende Ministerpräsident von NRW. 1947 in Hamburg geboren profilierte sich der bisweilen nüchterne und sarkastische Steinbrück vor allem als Wirtschaftspolitiker. Im Kabinett von Heide Simonis war er Anfang der 1990er Jahre Wirtschaftsminister, ehe er das gleiche Amt in NRW betreute.

Boot: Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück am Steuer
Noch hält der gebürtige Hamburger Steinbrück das Ruder in der HandBild: dpa

Nach einem kurzen Zwischenspiel als Finanzminister trat er am 6. November 2002 die Nachfolge Wolfang Clements als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen an. Als Landesvater machte der kühle Hamburger zunächst keine gute Figur: Nach nur 100 Tagen im Amt war seine Beliebtheit hinter die seines Widersachers Rüttgers zurückgefallen.

Heute sieht das wieder anders aus. Im direkten Vergleich liegt der dreifache Familienvater deutlich vor dem CDU-Mann. 46 Prozent wünschen sich weiterhin Steinbrück als Ministerpräsidenten, nur 31 Prozent bevorzugen Rüttgers, wenngleich der bei den wahlkampfentscheidenden Sachgebieten Wirtschaft und Arbeit bessere Kompetenzwerte aufweisen kann.

Rüttgers: Zahm wie ein Sozi

Galt Steinbrück bei seinem Amtsantritt noch als jemand, der zum Lachen in den Keller geht, muss sich heute Rüttgers den Vorwurf gefallen lassen, zu zurückhaltend und farblos zu agieren. SPD-Chef Müntefering titulierte ihn gar als "Weichei". Rüttgers ist ebenfalls Vater von drei Kindern, vier Jahre jünger als Steinbrück und genießt als gebürtiger Kölner den Vorteil, kein Zugereister zu sein. Bevor er 1999 zum Landesvorsitzenden der NRW-CDU gewählt wurde, machte er sich vor allem mit bildungs- und forschungspolitischen Themen einen Namen. Rüttgers war als Superminister im Kabinett Kohl für die Ressorts Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie zuständig.

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Jürgen Rüttgers will es im zweiten Anlauf schaffenBild: dw-tv

Rüttgers vermeidet markige Sprüche und mediale Profilierungsversuche, die etwa seinem hessischen Kollegen Roland Koch (CDU) ins Amt geholfen haben. Offenbar hat er aus der missglückten "Kinder-statt-Inder"-Kampagne seiner Partei aus dem vergangenen Wahlkampf gelernt. Nur einmal dominierte eine unbedachte Äußerung die bundesweiten Schlagzeilen, als der gläubige Katholik in einer Fernsehsendung seine Religion als "überlegen" bezeichnete. Nach einem Sturm der Empörung beeilte sich Rüttgers zu bekräftigen, er wolle keine anderen Religionen abwerten und trete für einen gleichberechtigten religiösen Dialog ein.

Ansonsten setzt Rüttgers eher auf die weniger kontroversen, aber brennenden Themen: zu hohe Verschuldung, zu hohe Arbeitslosigkeit, zu viel Unterrichtsausfall. Als scheine er der von ihm viel zitierten Wechselstimmung selbst nicht ganz zu trauen, besetzt er bisweilen auch sozialdemokratische Positionen: "Ich bin für Mitbestimmung, ich bin für Tarifautonomie, und ich bin für Kündigungsschutz", versicherte er im zweiten TV-Duell.

Wer mit wem?

Während sich Steinbrück auf ein klares Bekenntnis zur Fortsetzung der rot-grünen Koalition nicht festlegen lassen wollte, bekennt sich Rüttgers, wenn auch indirekt und vorsichtig, zur FDP. Die Liberalen sind da schon deutlicher. "Die SPD hat es nicht geschafft, den Strukturwandel als Chance für das Land zu nutzen", erklärt der FDP-Landeschef Andreas Pinkwart auf dem vergangenen Parteitag die Koalitionszusage an die CDU. Ob die Liberalen mit ihrem Spitzenkandidaten Ingo Wolf das gute Ergebnis der letzten NRW-Wahl wiederholen können, ist fraglich. Damals konnte die FDP unter Zugpferd Jürgen W. Möllemann, gegen den Wolf eher blass wirkt, fast zehn Prozent einfahren. Nun versprechen Umfragen Werte von um die sieben Prozent. Die Grünen könnten sich gegenüber ihrem Ergebnis von 2000 sogar um zwei Punkte auf 9 Prozent verbessern. Anders als die SPD gilt die Stammwählerschaft der Grünen als eher gut situiert und von den harten Sozialreformen wenig betroffen.

Noch scheint in NRW alles möglich. Bis zum Schluss werden alle Parteien alle erdenklichen Kräfte mobilisieren. Denn alle Prognosen - ob sie nun auf einen Wechsel hindeuten oder auf eine Fortführung von Rot-Grün - sind Rechnungen mit einer riesigen Unbekannten: Der Anteil der noch unentschlossenen Wähler wird auf bis zu 40 Prozent geschätzt. Da geht noch was.