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Schatzkammer der Nation

Michael Marek19. Mai 2003

Kulturgüter waren zu allen Zeiten Symbole nationaler Identität – und somit zum Teil auch bewusst Ziel von Kriegshandlungen. Das Erbe Deutschlands ist davor hervorragend geschützt: Es ist tief im Schwarzwald vergraben.

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Tief im Schwarzwald: Handschrift GoethesBild: AP

Der "Barbara"-Stollen liegt 15 Kilometer südöstlich von Freiburg entfernt. Früher wurde hier auf dem Schauinsland nach Silber gegraben, heute ist der knapp 1300 Meter hohe Berg bei Wanderern, Mountainbikern und Motorradfahrern als idyllisches Ausflugsziel beliebt. Ein unasphaltierter Waldweg ohne Hinweise auf Besonderheiten führt zum Stollen, der den "Zentralen Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland" beherbergt. Hier wird alles aufbewahrt, was auch in tausenden Jahren noch von deutscher Kultur interessant sein könnte.

Saurer Regen und radioaktive Strahlung

Bis Anfang der 90er Jahre wussten nur wenige, dass sich tief im Schwarzwald unwiederbringliche Dokumente befinden. Knapp 500 Meter im Berg lagern über 600 Millionen Mikrofilmphotographien, auf denen die wichtigsten Dokumente deutscher Geschichte gespeichert sind - in Edelstahlcontainern verpackt, geschützt vor saurem Regen und radioaktiver Strahlung.

Feuchte, kühle Luft schlägt dem Besucher durch das vergitterte Eingangstor entgegen. Dahinter führt ein dunkler Tunnel tief in den Berg. Der Boden des Stollens ist betoniert, kaltes Neonlicht reflektiert von den geweißten Wänden. Die Temperatur beträgt konstant zehn Grad Celsius - Sommer wie Winter. Die relative Luftfeuchtigkeit liegt bei durchschnittlich 75 Prozent. 500 Jahre sollen die Archivalien so schadlos überstehen - mindestens.

Strikte Geheimhaltung

Der Stollen wurde eingerichtet im Rahmen der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten. 1972 wurde mit dem Bau begonnen, knapp drei Jahre später wurden die ersten Mikrofilmbehälter eingelagert - unter strikter Geheimhaltung gegenüber der Bevölkerung und den Medien. Das hat sich mittlerweile geändert, sagt Hartmut Weber, der Präsident des Bundesarchivs. Es ist kein Geheimnis mehr, dass drei- bis viermal im Jahr verplombte, bierfassähnliche Metallzylinder angeliefert werden.

Freiburg Berg Schauinsland
Irgendwo dort unten: SchauinslandBild: www.frsw.de

Lange Zeit kursierten Gerüchte in der Bevölkerung. Von Munitionseinlagerungen war die Rede und von einer geheimen militärischen Befehlsstelle. Tatsächlich lagern hier rund 16.000 Kilometer Mikrofilm, die Zeugnis über das Leben, Denken und Wirken unserer Zivilisation ablegen sollen. Herr über das größte Bild- und Filmarchiv Europas ist die Bonner Bundesstelle für Zivilschutz. Dort spricht man stolz von der "Schatzkammer der Nation".

Schutz der Unikate

Seit 1961 wird in der Bundesrepublik die Sicherungsverfilmung von Archivalien durchgeführt. Das sind schriftliche oder graphische Zeugnisse deutscher Geschichte, die nur als Original, das heißt in einem einzigen Exemplar existieren. Die Vernichtung solcher Unikate würde einen unwiederbringlichen Verlust bedeuten - sei es durch bewaffnete Konflikte, Naturkatastrophen, Tintenfraß oder Papierzerfall. Der offizielle Beispielkatalog verfilmter Archivalien zählt die schützenswerten Dokumente auf: Die Baupläne des Kölner Doms, die Bannandrohungsbulle von Papst Leo X. gegen Martin Luther und ein eigenhändiges Schreiben von Voltaire an Herzog Karl Eugen von Württemberg.

"Repräsentativer Querschnitt"

Die Entscheidung, was hierzulande im einzelnen verfilmt wird, treffen die Archivverwaltungen des Bundes und der Länder. Dabei schreiben die Richtlinien für den Schutz von Kulturgütern einen "repräsentativen Querschnitt in zeitlicher, regionaler und sachlicher Hinsicht" vor. Zudem sehen die vom Bundesinnenminister veröffentlichten Grundsätze zur Durchführung der Sicherungsverfilmung insgesamt drei Dringlichkeitsstufen vor. Dabei soll die "Dringlichkeitsstufe 1" Vorrang haben. In der Praxis aber werden die sogenannten Stufen 2 und 3 bislang überhaupt nicht berücksichtigt. Wegen fehlender personeller und finanzieller Kapazitäten, wie es offiziell heißt. Dabei ist der Etat für den unterirdischen Kulturgutbunker lächerlich gering: es sind jährlich drei Millionen Euro. Zum Vergleich: Allein um das schriftliche Kulturgut der Bayerischen Staatsbibliothek auf Mikrofilm zu sichern, bräuchte man etwa 120 Millionen Euro.

Hitlers Testament und die Goldene Bulle

Was denn nun aufbewahrenswert ist, bleibt natürlich die große Frage für die Archivare. "Wir picken uns aus den Jahrhunderten etwas raus", sagt der Praktiker. Uwe Schaper ist stellvertretender Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam und zuständig für die Sicherungsverfilmung. Das könne dann eben die Krönungsurkunde von Otto dem Großen sein, die Unterlagen der Wannseekonferenz, Hitlers Testament, der Westfälische Friede oder die Goldene Bulle.

Frei von Kritik ist die Arbeit der Archivare nicht. Von den zuständigen Kommissionen werde ein Archivbegriff gepflegt, der sich fast ausschließlich am Staat orientiere, wie Kritiker monieren. Das heißt, was der Staat nicht selbst archivalisch produziert und erfasst habe, bleibt draußen vor dem Stollen. Das gleiche gilt für die biographischen Interviews der "oral history", für private Archive, Bibliotheken und Sammlungen. Lässt sich da überhaupt von einem "repräsentativen Querschnitt" sprechen? "Es gibt da inzwischen ein Umdenken", sagt Uwe Schaper. Auch er wisse, dass Unterlagen der staatlichen Verwaltung nur ein Teil der Wirklichkeit sein könne. Die Bandbreite der Archivalien nehme daher stetig zu.

Sisyphusarbeit der Archivare

Jedes Jahr wächst Europas größtes Langzeitarchiv um rund 15 Millionen Mikrofilmaufnahmen. Eine Sisyphusarbeit für die Archivare. "Als Archivar lernen Sie, mit der eigenen Endlichkeit zu leben", sagt Uwe Schaper. "Wir können nicht alles hinterlassen. Und natürlich fragen wir uns auch: Müssen wir unseren Nachfolgern auch alles hinterlassen?"