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Politik

Sacharow-Preis: Der Kampf gegen die Abstumpfung

Max Hofmann
13. Dezember 2016

Das EU-Parlament hat zwei ehemalige Sklavinnen des "IS" für ihren Kampf gegen Menschenhandel und Terror ausgezeichnet. Gewürdigt wird auch ihre eigene dramatische Geschichte. Aus Straßburg berichtet Max Hofmann.

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EU-Parlament Sacharow-Preis Nadia Murad und Lamija Adschi Baschar
Bild: Reuters/V. Kessler

Auf einmal sind die Gräuel der Terrormilizen des sogenannten Islamischen Staates nicht mehr nur Teil einer abstrakten Rede zur Außenpolitik im Europäischen Parlament. Als die beiden Jesidinnen Nadia Murad und Lamia Adschi Baschar in ihrer traditionellen Kleidung am Dienstag durch den Plenarsaal in Straßburg schreiten, sind die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die der IS in Syrien und im Irak verübt, fast mit Händen zu greifen. Die beiden haben "unvorstellbare Gräueltaten erlitten", wie es Parlamentspräsident Martin Schulz formuliert, und seien "Heldinnen". Ihre Auszeichnung mit dem "Sacharow-Preis für geistige Freiheit", der seit 1988 verliehen wird und mit 50.000 Euro dotiert ist, soll wieder mehr Aufmerksamkeit auf das Schicksal Tausender Frauen lenken, die der IS in der Region ausbeutet und missbraucht. 

EU-Parlament Sacharow-Preis Nadia Murad und Lamija Adschi Baschar
EU-Parlamentspräsident Schulz mit Nadia Murad und Lamia Adschi BascharBild: Reuters/V. Kessler

Genau das könnte schwierig werden, meint Koert Debeuf, Nahostexperte in Brüssel. Er selbst erfährt wachsendes Desinteresse an den Ereignissen in der Region. "Wenn ich früher etwas auf Twitter gepostet habe, hat es für große Aufmerksamkeit gesorgt", erklärt er im DW-Gespräch. "Jetzt wird es kaum noch aufgegriffen." Den Europäern ginge es in den vergangenen Monaten vor allem darum, die Grenzen zu schließen und so wenige Migranten aus der Region wie möglich in die EU zu lassen. Genau das Gegenteil fordert nun Preisträgerin Murad: "Europa soll seine Türen öffnen" sagt sie im  Interview mit der Deutschen Welle, "für die Opfer des Konfliktes". Neben ihr sitzt Baschar, die bei der Flucht auf eine Landmine trat und deren Gesicht seither entstellt ist. Sie wirkt wie ein Mahnmal für die archaischen Grausamkeiten, die sich vor Europas Haustür abspielen.

Für seine Verbrechen bezahlen

Auch Parlamentspräsident Schulz selbst, ein Freund deutlicher Worte, beschreibt die Situation als "beschämend und unerträglich". Europa habe nach dem Holocaust die Pflicht, Menschen vor Verfolgung zu schützen. Murad und Baschar bringen auch konkrete Vorschläge mit nach Straßburg, wie die EU das tun könnte: Unterstützung bei der Einrichtung einer Schutzzone im Norden Iraks, Gelder für den Wiederaufbau, Aufnahme von Flüchtlingen und ganz wichtig ist den Preisträgerinnen, den IS zur Rechenschaft zu ziehen. "Was wir von der Europäischen Union brauchen", so Murad, "ist den IS vor dem internationalen Strafgerichtshof anzuklagen". Er müsse für seine Verbrechen bezahlen.

Bildkombo Nadia Murad Basee Lamija Adschi Baschar
Murad und Baschar konnten dem IS entkommenBild: picture-alliance/AP Photo/Y. Karahalis/B. Szlanko

Eine Assistentin reicht Nadia Murad ein Taschentuch, um Tränen zu trocknen. Gerade hat sie ein weiteres Interview in Straßburg hinter sich gebracht. Wieder wurde sie gebeten, die Hölle ihrer Versklavung zu erzählen. Details will sie keine mehr preisgeben, aber ihr Blick sagt alles: hunderte, vielleicht tausende Vergewaltigungen, ständige Prügel und panische Angst hat sie durchlebt. Nahost-Experte Debeuf erklärt das IS-System: "Sie haben ein Regelbuch, wie Sklaven gehalten werden. Sie haben Anti-Schwangerschafts-Regeln, damit die Mädchen immer weiter missbraucht werden können"" Das und mehr haben auch Murad und Baschar erlebt.

"Unseren Stimmen Gehör verschaffen"

Die beiden Jesidinnen Murad und Baschar sind dabei, aus den Scherben ihrer früheren Existenz etwas Neues aufzubauen. Es ist immer noch ein Kampf, immer noch gegen den IS. Aber sie führen ihn nun mit anderen Mitteln. Sie müssen nicht mehr flüchten, so wie vor zwei Jahren; nun kämpfen sie um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit und gegen die Abstumpfung angesichts der täglichen Horrormeldungen aus Syrien und Irak. Das machen sie mit ungeheurer Kraft, die sich hinter den immer noch häufig verweinten Augen erahnen lässt. Bei der abschließenden Pressekonferenz sagt Martin Schulz, er sei "stolz, zwischen den beiden sitzen zu dürfen". In der Begründung, warum sie den Sacharow-Preis bekommen, steht viel über ihre jetzige Arbeit: Sie versuchen, Aufmerksamkeit für die Situation der Jesiden im Irak zu erzeugen. Der IS verfolgt die religiöse Minderheit erbarmungslos und wer nicht getötet wird, der wird versklavt – zumeist sind das junge Frauen und Kinder. Die Vereinten Nationen haben Murad zur Sonderbotschafterin "für die Würde der Opfer von Menschenhandel" ernannt. 

Es geht aber genauso um das persönliche Schicksal der beiden Jesidinnen. "Ihr Mut und ihre Kraft sollen ein Licht sein in dem finsteren Tal, durch das die Menschen in den umkämpften Gebieten in Syrien und im Nordirak schreiten", erklärt der deutsche EU-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff. Murad und Baschar formulieren die Wirkung des Preises schlicht und eindrücklich: "Mit dem Preis können wir unseren Stimmen Gehör verschaffen", sagen sie im Gespräch mit der Deutschen Welle, "er gibt uns Würde und Ehre zurück". Den IS besiegen kann man mit einem Preis für Menschenrechte zwar nicht. Die Hoffnung in Straßburg aber ist, dass sich wieder mehr Menschen an die Kinder und Frauen erinnern, die der IS noch als Sklaven hält. Es sind wohl immer noch Tausende. Im Gegensatz zu Nadia Murad und Lamia Adschi Baschar gelingt nur den wenigsten die Flucht.

 

Hofmann Max Kommentarbild
Max Hofmann Leiter der Hauptabteilung Nachrichten@maxhofmann