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Russland, ein Winter- und Feiertagsmärchen

Stephan Hille13. Januar 2004

Die Nachrichten in Russland überschlagen sich gerade nicht: Dass Putin nicht Schlittschuhlaufen kann, sorgt schon für Aufsehen. Feiertagsträgheit oder mangelnde politische Opposition vor den Präsidentschaftswahlen?

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Nachrichtenlose Zeit in Russland. Nichts passiert. Das öffentliche und politische Leben will nicht so richtig in Gang kommen. Es scheint, als ob das ganze Land in einen sanften Winterschlaf gefallen ist. Nur die Quecksilbersäule bewegt sich, stürzt plötzlich über Nacht auf minus 20 Grad. Spannend bleibt allein, ob am Morgen das russische Auto anspringen will. Die Nachrichten schreiben Schlagzeilen wie: Keine bemannte russische Marsmission im Jahr 2016 oder die Regristrierung von Wladimir Schirinowskis Leibwächter als Präsidentschaftskandidat. Gähn.

Nur Präsident Wladimir Putin agiert, reist durch die russischen Provinzen, tafelt mit Waisenhauskindern und offenbart ein Geheimnis: Er könne gar nicht Schlittschuhlaufen. Donnerlüttchen! Der begnadete Skifahrer, Judoka mit schwarzem Gurt und energische Staatenlenker kann nicht Schlittschuhlaufen! Schlagzeile oder ein Fall für die Polit-Technologen?

Bibbernde Russen und röchelnde Autos

Selbst die alljährliche Kältekatastrophe, der Kollaps der Heizsysteme, der jedes Jahr tausende von Wohnungen vor allem in den Städten im Norden in Kühlschränke und Eiswüsten verwandelt, und damit Nachrichten macht, ist bislang ausgeblieben. Vielleicht, weil bald schon wieder Wahlen stattfinden und dieses Mal vorgesorgt wurde, damit sich der Großmachts-Präsident Putin nicht schämen muss, wenn ein großer Bevölkerungsteil der russischen Großmacht in eiskalten Wohnungen bibbern muss.

Auf den normalerweise hoffnungslos verstopften Moskauer Straßen kann man sich mit seinem Vehikel wunderbar fortbewegen. Das liegt daran, dass der russische Winter schlagartig die Spreu vom Weizen trennt: Viele der alten russischen Autos springen erst gar nicht mehr an oder geben röchelnd am Straßenrand auf. Viele Russen brechen auch nirgendwohin auf und machen Winterurlaub auf der Datscha.

Jede Nacht ist Neujahr

Eine dämmerige Feiertagsstimmung hängt über dem Land, so als würde im Westen auf Weihnachten und Neujahr gleich Ostern und Pfingsten folgen. Die Russen haben gerade erst nach Neujahr, wegen der Kalenderverschiebung, Weihnachten gefeiert. Nun stehen das alte Neujahrsfest und der "Tag der Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft" vor der Tür. Beides sind zwar keine arbeitsfreien Tage, aber in Russland dennoch ein Grund zu feiern und das Leben von der geruhsameren Seite anzugehen.

Die Russen feiern eben gern und ausgiebig. Seit kurzem erfreut sich ein Club in Sankt Petersburg einer ganz besonderen Popularität: Im "Purga", zu deutsch "Schneesturm", wird das ganze Jahr, Abend für Abend, Neujahr gefeiert. Pünktlich um Mitternacht knallen die Sektkorken, zischen Wunderkerzen und vom Band läuft die Neujahrsansprache des kultigsten und feierfreudigsten Parteichefs, den die Sowjetunion je hervorgebracht hat: Leonid Breschnew.

Zeit der Stagnation

Doch Breschnew, der Partylöwe im Kreml, zog damals innenpolitisch die Daumenschrauben an, erhöhte den Druck auf Dissidenten und die ohnehin schwache Opposition und trug wesentlich dazu bei, dass das ganze Land in Stillstand und Trägheit verfiel. Inzwischen sehen bereits einige Bürgerrechtler und Nicht-Regierungsorganisationen eine neue Zeit der Stagnation heranbrechen. Erinnerungen an die Ära Breschnew werden wach, nachdem unter Putin praktisch jede Opposition zum Kreml beseitigt wurde und Steuerpolizei sowie Staatsanwaltschaft gegen den modernsten aber auch unabhängigsten Ölkonzern Yukos und die von ihm finanzierte
zivilgesellschaftliche Stiftung vorgingen. Vielleicht sind es aber auch nur die vielen Feiertage, die das Land zurzeit in eine Art Dämmersstimmung versetzt haben.