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Bildungswesen in der Krise

Evlalia Samedova / Markian Ostaptschuk24. Juni 2012

Eigentlich sollten Reformen dafür sorgen, dass alles besser wird. Aber im russischen Bildungswesen läuft vieles schief: Lehrer werden schlecht bezahlt und Noten im Zentralabitur aufgrund politischer Motivation vergeben.

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Ein Schüler lernt Englisch in einer russischen Privatschule (Foto: ITAR-TASS/Alexander Ryumin)
Bild: picture-alliance/dpa

Das Schulwesen im post-sowjetischen Russland setzte lange Zeit die Tradition der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts fort. Nur einige Unterrichtsfächer wurden Anfang der 1990er Jahre aus dem Lehrplan gestrichen. Ob ein Kind eine gute Bildung erhielt, hing stark vom Lehrer ab. Entscheidend war auch, über welche materiellen Ressourcen die Eltern verfügten. Deswegen war die Hochschulbildung in erster Linie denjenigen vorbehalten, die in großen Städten lebten, wo die Eltern gut verdienten. Russen in der Provinz mussten sich meist mit einer mittleren Schul- oder Fachschulausbildung begnügen.

Mitte der 1990er Jahre gab es einige Reformen, und viele Schulen änderten ihre Ausrichtung. Es entstanden spezialisierte Schulen, Lyzeen und Gymnasien. Die Hochschulausbildung, die in den wirtschaftlich schwierigen 1990er Jahren in vielerlei Hinsicht an Attraktivität eingebüßt hatte, gewann allmählich wieder an Ansehen. Aber die Aufnahmeverfahren für die Hochschulen wurden immer schwieriger. Wegen vieler Korruptionsfälle in den Aufnahmeausschüssen beschloss die Regierung Anfang 2000, die Aufnahmeprüfungen abzuschaffen.

Studenten der Immanuel-Kant-Universität im russischen Kaliningrad (Foto: dpa)
Studenten der Immanuel-Kant-Universität im russischen KaliningradBild: picture-alliance/dpa

Dafür wurde eine so genannte "Einheitliche Staatliche Prüfung" eingeführt, die seit 2008 für alle Absolventen der 11. Klasse in allen 83 Regionen Russlands zentral vorgegeben wird. Das "Zentralabitur" findet in Form von Prüfungen in den wichtigsten Schulfächern statt, darunter Russisch, Literatur, Mathematik, Fremdsprachen und Naturwissenschaften. Die Ergebnisse der Tests reicht der Abiturient an die Hochschule weiter, an der er studieren möchte. Zusätzliche Tests dürfen nur ausgewählte Hochschulen abhalten, darunter die staatlichen Universitäten in Moskau und St. Petersburg.

"Die Idee war gut, aber das Ergebnis ist ernüchternd", sagt Oleg Sergejew von der Gesamtrussischen Bildungsstiftung. Gleich nach der Einführung der Einheitlichen Staatlichen Prüfung sei es zu Problemen gekommen. So dränge eine gewaltige Anzahl von Schulabgängern an die großen Universitäten der Hauptstadt. Deren Infrastruktur sei aber auf so viele Anträge gar nicht ausgerichtet. "Nicht einmal in den Wohnheimen gibt es genügend Plätze", so der Experte.

Korruption im Schulwesen

Doch es gibt auch noch viel ernstere, tiefgreifendere Probleme. So sei die Korruption längst nicht verschwunden. Sie habe sich nur von den Hochschulen auf die Ebene der Schulen verlagert. "Die Noten der Schüler, die in den Einheitlichen Staatlichen Prüfungen erreicht werden, sind auch zu einem Kriterium des Erfolgs der Behörden vor Ort geworden", betont Sergejew. Die Gouverneure der Regionen, aber auch Schulleiter und Lehrer wollten sich mit guten Notendurchschnitten gegenüber anderen hervortun. Deshalb würde im Lehrplan alles daran gesetzt, die Schüler gut durch das Zentralabitur zu bringen; tatsächliches Wissen trete dabei immer stärker in den Hintergrund.

"Das Schulwesen befindet sich auf einem kritischen Weg", meint Oleg Sergejew. Die Hochschulen müssten nämlich in den ersten zwei Studienjahren die Versäumnisse der Oberschulen aufholen, und das führe dazu, dass letztlich unzureichend ausgebildete Fachleute die Hochschulen verlassen würden, betont Sergejew. Nicht zuletzt aus diesem Grund versuchen viele junge Russen, zum Studium ins Ausland zu gehen oder dort ihre wissenschaftliche Karriere fortzusetzen.

Grundschulkinder am ersten Schultag in Moskau (Foto: Andrey Rudakov)
Schlecht bezahlte Lehrer und politisch motivierte Notenvergabe - am ersten Schultag ahnen die Erstklässler in Moskau noch nichts von den Problemen im Bildungssystem ihres LandesBild: picture-alliance/dpa

Probleme fangen in der Grundschule an

Schlecht steht es in Russlands Schulen auch um die Erziehung – mit schwerwiegenden Folgen: Das Land weist die weltweit höchste Selbstmordrate unter Jugendlichen auf. "Die Rolle des Lehrers wurde in den letzten 20 Jahren völlig nivelliert. Diese Entwicklung beginnt schon bei der Vorschulbildung. Alles orientiert sich am Computer und nicht am Lehrer", bedauert Sergejew.

Einer vergleichenden Länderstudie zufolge erhalten in Finnland Lehrer von Grundschulklassen viel höhere Gehälter als Lehrer von Klassen mit älteren Schülern. Grund sei, dass es in der Grundschule nicht vorrangig darum gehe, Wissen zu vermitteln, sondern das Denkvermögen zu fördern, und das erfordere eine hohe pädagogische Qualifikation. In Russland sei hingegen alles umgekehrt. Grundschullehrer verdienten zu wenig und seien pädagogisch nicht gut genug geschult, meint der Experte.

Ethische Erziehung auf Anordnung

Wie immer versucht man in Russland die Situation per Dekret zu verbessern. In einigen Schulen wurde ein neues Fach eingeführt: "Grundlagen der religiösen Kulturen und säkularen Ethik". Eltern können selbst entscheiden, was ihr Kind lernen soll: Grundlagen der Orthodoxie, des Islam, des Buddhismus, des Judentums, der weltweiten religiösen Kulturen oder säkulare Ethik.

Manche Experten halten von diesen Fächern nichts. "Untersuchungen haben gezeigt, dass die Lehrpläne nicht von allen Eltern akzeptiert werden und die Lehrer auf diese Fächer nicht wirklich vorbereitet sind", sagt Tatiana Scharkowskaja von der Russischen Akademie für Bildung. Ihrer Meinung nach sollte die geistige Erziehung in verschiedene Fächer integriert und nicht mit einem einzelnen Fach von oben aufoktroyiert werden. Schulen und Eltern sollten in dieser Frage selbst entscheiden können. Ein Bewusstsein für die eigene Entscheidungsfreiheit, auch in Bildungsfragen, wächst allmählich in der russischen Bevölkerung, auch wenn es bislang keine gezielten öffentlichen Proteste gegen die Bildungssituation in Russland gibt.

Evlalia Samedova ist Journalistin und lebt in Moskau. Sie arbeitet für die Russische Redaktion der Deutschen Welle als Korrespondentin.