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Russisch und die Unerträglichkeit des Seins

Stephan Hille11. Mai 2004

Russen ticken einfach anders - Belege für diese Vermutung kann alleine ihre Sprache liefern.

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Russisch ist eine schöne Sprache, vielleicht sogar die schönste, doch das ist natürlich Geschmacksache. Zu Recht sind die Russen stolz auf die Sprache Puschkins, Dostojewskis, Gogols und wie die großen Schriftsteller

alle heißen. Nicht nur wegen des unermesslich reichen Wortschatzes, sondern auch aufgrund seiner vielfältigen Klangart. Russisch kann brutal wie ein Presslufthammer oder eine Kalaschnikow klingen und sich im nächsten Moment wie ein wundervolles Violinenkonzert von Tschaikowski anfühlen.

Für den im westlichen Europa häufig gehegten Verdacht, dass die Russen einfach anders ticken, lassen sich natürlich in der russischen Sprache etliche Belege finden. Jetzt, nach dem Ende der Mai-Feiertage - zwischen dem 1. Mai (Tag der Arbeit) und dem 9. Mai (Tag des Sieges) ist das öffentliche Leben praktisch zum Erliegen gekommen - werden viele Russen auf der Arbeit feststellen: "Mir will es nicht arbeiten." Eine gängige Formulierung. Russen sagen nicht etwa: "Ich will nicht arbeiten", sondern wählen eine andere Formulierung. Denn eigentlich sind sie ja ein

sehr arbeitsames Volk, nur irgendetwas hindert sie und das erklärt auch die im Vergleich zu anderen Industriestaaten weitaus geringere Produktivität. Der Schlüssel liegt unter anderem in der Sprache und zielt auf eine offenbar höhere Macht: "Es wollte mir nicht arbeiten."

Auch die Geschichte Russlands wird durch das Verständnis der Sprache klarer. Im Russischen gibt es zwar das Verb "haben", aber es wird praktisch nicht gebraucht. Will also der Russe sagen, er habe Geld, Zeit oder eine Schwester, wir er wortwörtlich übersetzt sagen: "Bei mir ist Geld", "bei mir ist Zeit", und so weiter. Wenn also schon in der Sprache das Haben - also das Eigentum - verpönt ist, wird klar, warum die Russen, die ersten waren, die unbedingt den Kommunismus ausprobieren mussten.

Inzwischen sind objektiv bessere Zeiten angebrochen, auch wenn das viele nicht zugeben und vor allem ältere Menschen der Vergangenheit nachtrauern. Die breite Masse johlt zufrieden, dass Michail Chodorkowski, Oligarch und ehemaliger Chef des größten russischen

Ölkonzerns Jukos (Chodorkowski: "Bei mir war ein großer Ölkonzern"), seit über einem halben Jahr unter anderem wegen der Anklage auf Steuerhinterziehung in Untersuchungshaft sitzt.

Nun ist bekannt, dass dem russischen Volkscharakter die Gegenwart grundsätzlich unerträglich erscheint. Wiederum liegt der Schlüssel zur Erklärung in der Sprache. "Sein" gibt es nur in der Vergangenheit und in der Zukunft, nicht aber in der Gegenwart. Die grammatikalische Abwesenheit des Hilfsverbs "sein" erklärt also die grundsätzliche

Skepsis der Russen gegenüber dem Ist-Zustand.

Seit der Europäisierung Russlands unter Peter dem Großen zog es viele Deutsche nach Russland. Mit ihnen kam die Sprache. Keine andere Sprache neben dem Russischen weist so viele Wörter deutschen Ursprungs auf.

"Schlagbaum", "Kjegelbahn" und "Maschrut" sind nur einige Beispiele. Vor allem in den letzten zehn Jahren erweiterte sich der russische Wortschatz um ausländische Lehnwörter, vor allem um englische und sehr zum Ärger russischer Sprachpuristen. Fester Bestandteil des Russischen

sind nun das "Briefing", das "Wiekend" und die "Imagemejkery". Daneben ist den Russen von heute aber auch "Gruppenseks" ein Begriff. Als letzter Beleg für den Reichtum des Russischen dürfte die Tatsache sein,

dass sich die Russen heute nicht nur teuere Autos leisten, sondern auch ein Extra-Verb für die Fortbewegung in den deutschen Luxusautos mit dem Stern: "Merzedesovatj" heißt das neue Wort.