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Russen lassen sich die Revolutionsfeier nicht nehmen

Stephan Hille8. November 2005

Zum ersten Mal hieß es für die "Werktätigen" in Russland am Jahrestag der Oktoberrevolution nicht ausschlafen, sondern arbeiten.

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In einer überhasteten Feiertagsreform hatte Präsident Wladimir Putin im vergangenen Jahr den 7. November als Feiertag offiziell abgeschafft. Anstelle des vor allem für Kommunisten, Pensionäre und Nostalgiker heiligen Feiertages ließ Putin den 4. November im Kalender als Feiertag und Tag der Nationalen Einheit rot anstreichen.

Natürlich freuen sich die Russen grundsätzlich über jeden freien Tag, vor allem wenn er, wie in diesem Jahr, auf einen Freitag fällt und damit ein verlängertes Wochenende auf der Datscha ermöglicht. Dennoch weiß laut einer Umfrage mehr als die Hälfte der Russen nicht, warum nun ausgerechnet der 4. November ein Feiertag sein soll.

Der vom Präsidenten per Dekret eingeführte Gedenktag erinnert recht unscharf an das Ende der "Zeit der Wirren" im 17. Jahrhundert. Damals, 1612, beendeten die Anführer der Befreiungsarmee, Dmitri Poscharski und Kusma Minin, die Fremdherrschaft eines polnischen Besatzerheeres. Tatsächlich begann am 4. November vor 400 Jahren der Befreiungskampf, die polnischen Truppen wurden erst später vertrieben. Doch diese historische Feinheiten sind der Mehrheit fremd, wenn nicht sogar egal.

Der von Putin dekretierte Feiertag als Kompensation für das abgeschaffte Wiegenfest der Oktoberrevolution ist damit nur eine weitere Volte in den post-sowjetischen "Feiertagswirren". Obwohl dem russischen Präsidenten kein sonderliches Interesse an einer kritische Aufarbeitung der jüngeren russischen Geschichte nachgesagt werden kann, wollte er unbedingt den seit Jahrzehnten traditionell begangenen Revolutionsfeiertag abschaffen, vor allem um den Kommunisten eine weitere Plattform zu nehmen.

Sein Vorgänger, Boris Jelzin, war zwar mit den Kommunisten auch nicht zimperlich umgegangen, doch den traditionellen Feiertag ließ er im Kalender, allerdings unter einem neuen Motto, als "Tag der Eintracht und Versöhnung". Das erschien den meisten Russen zwar ziemlich wirr, aber Hauptsache der 7. November blieb das, was er immer war: Ein Feiertag.

Auch an diesem 7. November 2005 ließen es sich in der russischen Hauptstadt 10.000 Moskauer, vor allem Kommunisten, nicht nehmen, in einem Massenaufmarsch durch Moskau zu marschieren, um ihren im Mausoleum aufgebahrten Revolutionsführer Lenin zu gedenken und vor allem, um die Wiedereinführung des Revolutionsgedenktages zu fordern. Die Behörden ließen die Demonstranten gewähren, denn ob nun das tägliche Verkehrschaos durch stehende Autos oder durch marschierende Kommunisten generiert wird, ist im Grunde auch egal.

Putin selbst musste natürlich den von ihm geschaffenen Feiertag begehen und legte demonstrativ Blumen am Denkmal der Anführer des so genannten Befreiungsheeres nieder. Die Schau stahlen dem Staatsoberhaupt allerdings rund 3000 Nationalisten und Rechtsextreme, die durch die Innenstadt marschierten und mit dem Nazi-Gruß Parolen wie "Russland den Russen" skandierten.

Das Feiertagsgebaren der Demonstranten zeigt wieder einmal, wie wenig die eigene Geschichte aufgearbeitet worden ist. Die einen feiern eine völkische Ideologie, gegen die ihre Großeltern im Zweiten Weltkrieg kämpfen mussten, und die Sowjetnostalgiker feiern nach wie vor den Staatstreich der Bolschewiki, der das Land in die jahrzehntelange Diktatur und Katastrophe stürzte. Einen Feiertag aber, der dem neuen Russland Ehre zollt, haben die Russen noch immer nicht gefunden. Auch das sagt einiges über die nationale Befindlichkeit.