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Rosen: "Schilddrüsenkrebs ist nur die Spitze des Eisbergs"

Karin Jäger9. Januar 2015

Die Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern nehmen nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima zu. Erwachsene werden gar nicht untersucht. Alexander Rosen von Ärzte gegen Atomkrieg kritisiert die Behörden in Japan.

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Jodtabletten
Bild: picture-alliance/dpa/Hannibal

Deutsche Welle: Was waren die Grundlagen der Untersuchungen?

Alexander Rosen: Bei den Schilddrüsenreihenuntersuchungen in Japan handelt es sich um eine großangelegte Untersuchung von über 360.000 Kindern unter 18 Jahren in der gesamten Fukushima-Präfektur. So eine Untersuchung gab es noch nie. Sie wurde erst auf großen Druck aus der Bevölkerung durchgeführt. Grundlage der Untersuchungen ist das Abtasten der Schilddrüse und die Ultraschalluntersuchungen im Hinblick auf Knoten, Zysten oder krebsverdächtigen Anomalien in der Schilddrüse. Die Behörden haben große Probleme mit der Bekanntgabe ihrer eigenen Ergebnisse. Viele Eltern beklagen, dass die Untersuchungen hastig durchgeführt wurden, die Ergebnisse ihnen nicht mitgeteilt wurden. Und per Dekret wurde beschlossen, dass andere Ärzte keine Zweitmeinung abgeben dürfen.

60.505 Kinder wurden nachuntersucht, bei 57,8 Prozent wurden Knoten oder Zysten gefunden. Wie sind die Zahlen zu bewerten?

Das ist nicht genau zu sagen, da es weltweit noch keine vergleichbare Studie gibt. Daher weiß man nicht, wie viele Zysten und Knoten bei einer gesunden Bevölkerung unter 18 Jahren eigentlich normal sind. Zu Beginn der Untersuchungen allerdings sagten die zuständigen Behörden in Japan: "Es wird nichts dabei herauskommen". Als sie dann bei so einer hohen Zahl an Kindern Anomalien fanden und bei über 100 Kindern einen Krebsverdacht, war das Erstaunen groß. Bisher sprachen die Behörden immer von "Screening-Effekt". So nennen wir das Ergebnis von Befunden, die bei einer Reihenuntersuchung ermittelt werden.

Dabei wird eine große Zahl von Gesunden untersucht und Befunde werden deutlich, die erst Jahre später aufgefallen wären. Das heißt, man untersucht Patienten, die gar keine Krankheitssymptome haben und findet dann manchmal schon Vorstufen einer Erkrankung. Dadurch kann eine höhere Anzahl von Krankheiten gefunden werden, als wenn man wartet, bis die Menschen mit Symptomen einen Arzt aufsuchen. Anhand der neuen Zahlen sehen wir, dass sich in den letzten zwei Jahren bei einer großen Zahl von Kindern neue Knoten, Zysten und Krebserkrankungen gebildet haben, die man nicht mit dem Screening-Effekt wegdiskutieren kann.

IPPNW - Dr. Alex Rosen
Alexander Rosen von der deutschen Sektion der IPPNWBild: IPPNW

Nach den Erfahrungen von Tschernobyl muss man doch davon ausgehen, dass die Bewohner der Region Fukushima ein erhöhtes Risiko haben, an Krebs zu erkranken?

Das ist richtig. Wir haben durch den Reaktorunfall 1986 in der Ukraine gelernt, dass die Freisetzung von radioaktiver Strahlung und vor allem von radioaktivem Jod, ein ganz erhebliches Gesundheitsrisiko besonders für die Entwicklung von Schilddrüsenkrebs mit sich bringt. In Japan wurden im März 2011 große Mengen an Radioaktivität freigesetzt. Menschen haben das radioaktive Jod mit Wasser, Luft und Nahrung aufgenommen. Das Jod setzt sich vor allem in den Schilddrüsen von Kindern und Jugendlichen fest und führt dort zu Schilddrüsenkrebs. Das ist bekannt. Insofern erwarten wir in Japan eine erhöhte Rate an Schilddrüsenerkrankungen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. Leider.

Warum ist die Schilddrüse als Organ nach einem atomaren Supergau besonders betroffen?

Bei einer Reaktorkatastrophe gelangt radioaktives Material in die Umwelt, darunter Jod 131. Der Körper kann Jod 131 nicht von Jod unterscheiden, das er aus der Atemluft, über Lebensmittel oder Wasser aufnimmt. Das normale Jod wird zur Produktion des Schilddrüsenhormons benötigt. Jod 131 verstrahlt das umliegende Gewebe, was zu Fehlbildungen in der Schilddrüse und Krebsvorstufen führen kann. Normalerweise sollte man nach einem Reaktorunfall Jodtabletten prophylaktisch an die Bevölkerung verteilen. Dadurch wird die Schilddrüse so mit Jod überladen, dass sie kein radioaktives Jod mehr aufnehmen kann. Das ist in Japan ganz bewusst nicht getan worden. Das ist auch ein Kritikpunkt an das Katastrophenmanagement in Japan.

Bei vielen der Kinder haben sich Metastasen gebildet. Teile der Schilddrüse mussten operativ entfernt werden. Was bedeutet das für das Leben dieser Kinder?

Die Zahl der Kinder mit Krebsbefund liegt bei 112. Davon mussten 84 operiert werden, weil sich Metastasen gebildet hatten, der Krebs gestreut hatte oder der Krebs so groß war, dass er lebensbedrohlich für die Kinder wurde. Wenn Teile der Schilddrüse entfernt werden, müssen die Kinder lebenslang Schilddrüsenhormone einnehmen. Der schwerwiegendste Faktor aber ist, dass sie ihr Leben lang zu Nachsorgeuntersuchungen müssen, mit Ultraschall und Blutuntersuchungen, weil es jederzeit zu einem Rückfall kommen kann. Etwa sieben Prozent der Schilddrüsenkrebsfälle enden tödlich.

Wurden Erwachsene nach dem Atomunfall von Fukushima nicht untersucht?

Nein. Erwachsene in Japan wurden nicht standardmäßig untersucht auf diese Krankheit. Das ist auch nicht geplant. Bei Erwachsenen ist das Risiko, Schilddrüsenkrebs zu entwickeln, nicht so hoch. Das wissen wir aus den Erfahrungen von Tschernobyl. Dabei ist Schilddrüsenkrebs auch nur die Spitze des Eisberges und die Erkrankung, die am schnellsten auftritt. Aber wir erwarten auch andere Erkrankungen: Leukämien, Brust-, Darmkrebs, Herz-Kreislauferkrankungen werden durch Strahlung ausgelöst. All diese Erkrankungen werden in Japan nicht standardmäßig untersucht.

Fukushima 3 Jahre Folgen Kind
Hastig werden die Kinder untersucht, die Ergebnisse nur ungern vermitteltBild: Reuters

Kann man die langfristigen gesundheitlichen Folgen fast vier Jahre nach der Atomkatastrophe überhaupt schon abschätzen?

Nein. Wir erwarten, dass einige der Erkrankungen mit einer großen Latenz, also noch 40 Jahre später auftreten können. Das heißt, Kinder, die zum Zeitpunkt der Atomkatastrophe geboren wurden, werden ihr Leben lang ein erhöhtes Risiko haben, aufgrund der Strahleneinwirkung zu erkranken. Das ist das Problem bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung der gesundheitlichen Folgen: Eine Krebserkrankung trägt kein Herkunftssiegel. Wir werden niemals genau wissenschaftlich nachweisen können, ob die Erkrankung durch die radioaktive Strahlung von Fukushima verursacht wurde.

Was leistet Ihre Organisation, die international organisierten Ärzte, die sich gegen eine atomtechnologiefreie Welt einsetzen?

Die IPPNW steht in Kontakt mit Ärzten, Wissenschaftlern, Betroffenen und der Zivilgesellschaft in Japan und bietet ihnen unsere Interpretation der Untersuchungsdaten und unser Knowhow an. Das haben wir aus der jahrlangen Erfahrung nach Tschernobyl in der Ukraine und Weißrussland gesammelt. Wir schreiben Artikel, die ins Japanische übersetzt werden, laden Experten aus Japan nach Deutschland oder Weißrussland ein, wo sie sich mit Experten austauschen können.

Unsere Arbeit findet vorrangig auf einer wissenschaftlichen, medizinischen Ebene statt. Japan hat einen hohen Wohlstand. Wir müssen dort nicht medizinische Hilfe leisten wie damals nach Tschernobyl. Damals hatten engagierte Mediziner aus Deutschland Ultraschallgeräte in die Ukraine gebracht, Kliniken aufgebaut und Betroffene untersucht. Was die Menschen in Japan benötigen, und was sie von ihren eigenen Medien nicht bekommen, sind glaubhafte, belastbare Informationen und das Gefühl, dass jemand ihr Recht auf Gesundheit ernst nimmt. Das passiert in Japan nicht. Sie sind gezwungen, in einer radioaktiv verseuchten Umwelt zu leben. Nur wenige haben die Möglichkeit, dieses Umfeld zu verlassen. Dann bekommen sie aber keine medizinische Unterstützung mehr. Wir kritisieren, dass die Menschen nicht darüber entscheiden können zu bleiben oder wegzuziehen.

Dr. Alexander Rosen ist stellvertretender Vorsitzender der deutschen Sektion von IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War). Die Organisation setzt sich für die Verhütung eines Atomkrieges ein. Rosen arbeitet als Kinderarzt in Berlin.

Das Gespräch führte Karin Jäger.