1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Ciulli: "Die Kulturindustrie hat auch Trump ermöglicht"

Klaudia Prevezanos
5. März 2017

Nach dem Amtsantritt von US-Präsident Trump und vor der Bundestagswahl sieht der Intendant Roberto Ciulli das Theater als wichtigen Ort der Auseinandersetzung. Angst vor Fremden hat er nicht - im Gegenteil.

https://p.dw.com/p/2Y9ij
Roberto Ciulli vom TAR (Foto: Harald Hoffmann)
Bild: Harald Hoffmann

Der Regisseur und Theaterintendant Roberto Ciulli, geboren 1934 im italienischen Mailand, gründete 1980 zusammen mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer, dem Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben und der nordrhein-westfälischen Stadt Mülheim das Theater an der Ruhr (TAR). Hier hat er einem Roma-Theater eine Bühne geboten, es gab oder gibt künstlerische Kooperationen mit dem Irak, Jugoslawien, Südafrika, Afghanistan. Bereits in Mailand gründete Ciulli 1962 das Theater "Il Globo". 1965 ging er nach Deutschland und arbeitete zunächst u.a. als Lkw-Fahrer. Ende der 1960er Jahre machte er mit der Theaterarbeit weiter: in Göttingen, Köln, Berlin und Düsseldorf, dann Mülheim an der Ruhr. Ciulli studierte in Italien Philosophie und promovierte über den deutschen Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Ciulli hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Im November 2013 wurde er mit dem Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen geehrt, der höchsten Auszeichnung des Landes.

DW: Herr Ciulli, Sie leben nun seit über 50 Jahren in Deutschland und arbeiten mehr als 35 Jahre davon am Theater. Wie hat sich die Rolle und Bedeutung des Theaters in Deutschland gewandelt?

Roberto Ciulli: Heute erscheint es oftmals so, als würde sich das Theater am glänzenden Leerlauf ständiger scheinbarer Erneuerung berauschen und damit seine Ratlosigkeit angesichts einer komplizierten Welt verbergen. Doch die Annahme, Theater habe seine Bedeutung verloren, ist nicht neu. Im Jahr 1924 schrieb Robert Musil: "Die Impulse, welche das Theater allabendlich aussendet, verlaufen ins Leere, weil die kulturellen Kategorien fehlen, sie aufzunehmen." Auch heute scheint das Theater nicht mehr das Zentrum der Gesellschaft. Wie könnte es auch? Es gibt "die" Gesellschaft nicht mehr, sie ist zersplittert. Doch ich bin zuversichtlich, da ich an den Sinn des Theaters glaube. In Zeiten politischer Unsicherheit gewinnt es wieder an Einfluss. In der Nachkriegszeit hatten die Menschen einen ungeheuren Hunger auf Kultur, auf anspruchsvolles Theater. In der Zeit von 1939 bis 1945 hatten die Kulturverantwortlichen auf den propagandistischen Wert des Unterhaltungstheaters gesetzt.

In den 60er und 70er Jahren stürmte junges Publikum die Theater. Sie wollten von der Elterngeneration Antworten auf ihre unbequemen Fragen. Die Vergangenheitsbewältigung fand auch auf deutschen Bühnen statt. Wenn sich das Theater besinnt und von der Ökonomisierung der Kultur, die mit der Erfindung des Privatfernsehens einherging, abgrenzt, kann es diese wichtige Position behalten. Die Kulturindustrie, die der oberflächlichen Medienberieselung viel Macht einräumt, hat auch Trump ermöglicht. Seine Wahl zum Präsidenten der USA ist ein negatives politisches Signal. Es wird, wie auch im Fall des Vietnamkriegs, eine Gegenbewegung geben. Das Theater wird ein wichtiger Ort der Auseinandersetzung sein.

Sie haben mit dem Theater an der Ruhr (TAR) mehr als 30 Länder besucht, aus ebenso vielen Nationen kamen Theatergruppen zu Ihnen nach Deutschland. Die Idee des Reisens und die Begegnung mit dem Anderen sind bei Ihnen zentral. Durch die Zahl der Menschen, die als Flüchtlinge in den vergangenen eineinhalb Jahren nach Deutschland gekommen sind, hat sich die Stimmung im Land gegenüber vielem, das fremd ist, zum Schlechteren gewandelt. Merken Sie davon auch etwas in Ihrer Arbeit?

In unserer Arbeit merken wir davon gar nichts, da die Menschen, die gegen Fremde sind, nicht unser Publikum sind. Zuschauer unserer Vorstellungen sind neugierig auf das Fremde. Doch das Wesentliche ist der Blick des Fremden auf uns. Nur durch den Blick des Fremden auf uns erhalten wir die Möglichkeit, uns selbst aus der Distanz und somit kritisch zu betrachten. Wir können uns dadurch verbessern. Eigentlich müssen wir dankbar sein, dass es Fremde gibt, die uns diesen Prozess der Selbsterkenntnis ermöglichen. Gäbe es keine Fremden, müssten wir sie erschaffen, um kritikfähig zu werden.

Wenn Sie mit Ihrem Ensemble auf Reisen sind: Nehmen Sie dann - gewollt oder ungewollt - Attribute oder Werte der deutschen Kultur bzw. des deutschen Lebens mit?

Was ich mitnehme, ist die deutsche Sprache. Lange Zeit assoziierte man damit Kant, Hegel, Rilke oder Büchner. Dann wurde die deutsche Sprache zum Synonym für Drill, Gehorsam und Befehle. Die Sprache der Nationalsozialisten war hart, grausam. Es war ein langer Weg, die deutsche Sprache von dieser Verknüpfung zu befreien.

Für welche Werte steht Deutschland mit seiner Kultur Ihrer Meinung nach heute?

Ihre Frage in dieser Zeit impliziert glücklicherweise Werte wie Solidarität, Menschenrechte, Toleranz. Sie sind allerdings universell und nicht an eine Nation gebunden. Es gibt sie auch in Saudi-Arabien und Iran. Nur ist es dort gefährlicher, für diese Werte einzutreten. Doch sind sie so unentbehrlich, dass Menschen bereit sind, dafür ihr Leben zu riskieren.

Die nächste Bundestagswahl steht bevor. Es ist möglich, dass es dabei einen politischen Rechtsruck gibt und nationalistische Ideen starken Zulauf bekommen. Kann Theaterarbeit Einfluss auf die Stimmung im Land nehmen oder ist sie immer nur ein Spiegel, der der Gesellschaft vorgehalten wird?

Nur ein Spiegel? Dieses Requisit gibt die Möglichkeit der Selbstreflexion. Ein Blick in den Spiegel ist eine nicht unwichtige Voraussetzung für unser Denken und Handeln. Das Theater hat nicht die Wirkung auf die politische Haltung, wie andere Medien, die große Massen erreichen können. Doch wen es erreicht, den ändert es grundlegender, nicht oberflächlich. Das Theater geht tiefer.

Das Gespräch führte Klaudia Prevezanos.