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Richtiger Weg mit Hindernissen

1. Mai 2004

Die Aufnahme der zehn neuen Mitglieder in die Europäische Union hat in der Presselandschaft für ein geteiltes Echo gesorgt. Ein Überblick von DW-WORLD.

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New York Times (USA): "Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, geboren inmitten der von (Adolf) Hitler geschaffenen Verwüstung, ist weit gekommen. Zehn Nationen und ihre 75 Millionen Einwohner gehören jetzt zur Europäischen Union, nach der bisher ehrgeizigsten Erweiterung dieser Gemeinschaft. (...) In gleichem Maße, wie die EU bereits eine Gemeinschaft der Nationen ist, muss sie zu einer Gemeinschaft der Bürger werden. Sie muss demokratischer werden, und damit das passieren kann, werden ihre Mitgliedstaaten noch mehr Souveränität abgeben müssen. Eine gemeinsame Außenpolitik zu formen, wird eine Herausforderung bleiben, wie der Irak-Konflikt gezeigt hat. (US-)Präsident Bush wird es zweifellos mit Freude sehen, dass die neuen Mitglieder der Gemeinschaft in der Mehrzahl auf der Seite der Amerikaner stehen."

The Independent (Großbritannien): "Je näher das Beitrittsdatum gerückt ist, desto mehr haben sich die bisherigen Mitgliedstaaten praktischen Problemen der Erweiterung zugewandt, vor allem der möglichen wirtschaftlichen Belastung durch Zuwandererströme. Deutschlands Erfahrungen durch die Aufnahme der neuen Länder lässt wenig Raum für Optimismus.

Die Feiern sind in gewissem Sinne eine vertane Gelegenheit durch einen Mangel an politischer Führung. (Frankreichs) Präsident Chirac, (der deutsche Bundes-)Kanzler Schröder und (der britische) Premierminister Blair, die drei Politiker, die hier die Führungsrolle hätten übernehmen können und müssen, sind alle zu sehr mit ihren eigenen Problemen zu Hause beschäftigt gewesen."

Les Echos (Frankreich): "Soll die Türkei der EU beitreten oder nicht? Diese Fragestellung beschäftigt die Politiker, denn sie spüren, dass die öffentliche Meinung sich dem Beitritt dieses Landes stark widersetzt. Die 'Türkei-Frage' belastet sogar die Erweiterungsrunde dieses 1. Mai. Auch in den anderen Ländern schlägt die Debatte hohe Wellen, einschließlich aller Zweideutigkeiten.

Gerhard Schröder und Tony Blair setzen sich für eine europäische Türkei ein. Valéry Giscard d'Estaing spricht sich dagegen aus. Dazwischen liegt der politische Sumpf des 'Ja-aber'. Präsident Chirac hat gesagt, dass der Beitritt der Türkei 'wünschenswert' sei, die Bedingungen aber noch nicht erfüllt seien. Nach Chiracs Worten wäre der Beitritt frühestens in zehn oder fünfzehn Jahren vorstellbar."

Figaro (Frankreich): "Die vorherrschende Meinung ist, dass die Bürger nichts von der europäischen Sache verstehen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. In Wirklichkeit antworten die Macher des heutigen Europas nicht mehr auf die Enttäuschung der Europäer. Die Vorsicht vor dem Recht auf demokratische Abstimmungen ist ein deutliches Zeichen dafür. Denn die Ergebnisse entsprechen nicht immer den Versprechungen. (...) Wirtschaftlich eine Enttäuschung und politisch ohnmächtig: Wenn Europa nicht gespalten ist, dann entsprechen seine Mittel nicht seinen Ambitionen. Ob es den Anhängern des derzeitigen Modells gefällt oder nicht: Europa weicht auf der internationalen Bühne zurück. Wenn man 50 Jahre voraus blickt (...), wie viel wird dieser Block angesichts der Großen von morgen, der USA und Chinas, aber auch angesichts künftiger Giganten wie Indien und Südamerika und selbst des Nachbarn Russland wiegen?"

De Volkskrant (Niederlande): "Die Festlichkeiten werden ein wenig überschattet durch das allgemeine Gefühl der Unsicherheit, das sich in Europa verbreitet hat. Dass der Integrationsprozess nicht greifbar ist, dass es an klaren Ordnungsprinzipien fehlt, dass Europa auf der Weltbühne oft nur Ohnmacht zeigt, dass es neue terroristische Bedrohungen gibt - all das hat das Selbstvertrauen der Europäer, Bürger und Politiker gleichermaßen, deutlich untergraben. Es gibt kein Wundermittel, um dieses Selbstvertrauen im Handumdrehen wieder herzustellen. Einer der Gründe, warum die europäische Integration nicht klappt, liegt darin, dass die Brüsseler Politik zu oft ihr Heil in hohen Idealen und gewichtigen politischen Konzepten sucht, die immer wieder von der widerspenstigen Praxis zermahlen werden."

De Telegraaf (Niederlande): "Natürlich werden durch die Erweiterung der Union noch viele Probleme entstehen. Auf dem Papier ist viel geregelt, aber in der Praxis werden sich Hindernisse auftun. Eines dieser Hindernisse ist finanzieller Art. Es ist bereits deutlich, dass die neuen Staaten in den kommenden Jahren mehr Geld fordern als abliefern werden. Die Hindernisse muss und wird man überwinden, denn das ist nötig, um das gesteckte Ziel zu erreichen - ein vereinigtes, demokratisches Europa, in dem auch die früheren Ostblockstaaten ein Zuhause finden."

Kurier (Österreich): "Es lässt sich nicht wegreden: Das historische Ereignis der Vereinigung Europas wird überschattet von Sorgen, Zweifeln, Konfusion. Geschichtlich bedeutsam ist, wie sich dieser Kontinent nach seiner jahrzehntelangen Teilung neu organisiert. Zehn Länder treten der Union bei - freiwillig, mit der ausdrücklichen Zustimmung ihrer Bürger. Die Erweiterung schafft neue Chancen, politisch wie wirtschaftlich. Aber sie ist auch ein Wagnis.

Zwischen den Neuen gibt es kein Gleichgewicht. Die Newcomer sind auf vielen Gebieten tüchtig. Und sie locken Investoren mit niedrigen Steuern und verbesserter Infrastruktur. Das alles finanzieren die Nettozahler wie Deutschland und Österreich. Wie man den unfairen Wettbewerb stoppen kann, ist eine ungelöste Frage unter den 25."

Berner Zeitung (Schweiz): "Die Politiker in den Beitrittsländern wissen, dass es zur EU keine Alternative gibt. Die Menschen in West und Ost aber haben Ängste, Vorurteile und Nostalgien. Im Westen fürchtet man sich vor Überfremdung, vor einem Heer von Billigarbeitskräften und vor wachsender Kriminalität. Manche sehnen sich nach der Überschaubarkeit und dem klaren Weltbild des Kalten Krieges zurück. (...) Dieses wahrlich nicht durch Visionen überfrachtete Europa kann auch eine Chance sein. Jetzt, wo man sich nicht mehr via Feindbilder definiert, könnte man in Ost und West endlich den schonungslosen Blick in den Spiegel wagen. Dank ihrer realsozialistischen Erfahrungen bringen die neuen EU-Bürger dafür eine gehörige Portion Skepsis und Leidensfähigkeit mit, von der die zu Nabelschau und Wehleidigkeit neigende Zivilgesellschaft im Westen nur profitieren kann. Damit sich der Europa-Traum nicht plötzlich als Albtraum entpuppt."

Corriere della Sera (Italien): "Seit einigen Jahren sind Konsumenten, Unternehmer und Regierungen der EU in den Bann einer Melancholie gefallen, die sie lahm legt und erschöpft. Im Bann dieser üblen Laune betrachten sie auch den Beitritt der zehn neuen EU-Länder. Dabei sollten sie (in der EU-Erweiterung) eine äußerst gelegene Chance sehen, weil sich ganz Europa mit dem Beitritt all dieser Länder dank der Mischung von Bedürfnissen, Ressourcen und Institutionen bereichert. Darin liegt das Geheimnis des Wirtschaftswachstums. (...) Europa ist sich oft ungewiss, ob es wegen seines Niedergangs leiden oder sich darüber freuen soll. Die Erweiterung schenkt Europa eine Gruppe von Ländern, in denen der Niedergang Jahrzehnte lang dauerte, Länder die mehr als wir an Europa glauben, die uns von der üblen Laune und der Melancholie wach rütteln können."

Repubblica (Italien): "Das Wichtigste ist, dass die Erweiterung die EU als eine Union stärkt, die sich auf dem Rechtsstaat stützt. Eine Union, die in der Vielfältigkeit, der Verteidigung der Werte der Freiheit, der Demokratie und einer immer engeren Kooperation der Völker vereint ist. Es ist viel zu leicht, diese Prinzipien und Grundwerte als selbstverständlich zu betrachten. Ihre Bedeutung könnte heute nicht offenkundiger sein. Die zehn neuen Länder teilen diese Werte und sind Teil Europas."

"Mlada fronta Dnes" (Tschechien): "Viele Dinge in der EU sind lächerlich, zum Beispiel der Streit um das Wort Marmelade. Viele Dinge in der EU sind auch schlecht, zum Beispiel ihre Landwirtschaftspolitik. Und es ist heuchlerisch, wenn große Staaten unter dem Deckmantel eines angeblichen Kampfes gegen den Nationalismus bloß ihre Machtinteressen sichern. Trotzdem: Die EU ist eine Gemeinschaft gleichberechtigter demokratischer Länder. Allen EU-Bürgern ist Freiheit garantiert (und das nicht nur auf dem Papier). Die Gerichte sind unabhängig, und jeder hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Sicher, man kann herzlich lachen über jene Menschen in den Beitrittsstaaten, die sich auf die künftige Mitgliedschaft freuen wie kleine Kinder auf Weihnachten. Wer sich vor der EU fürchtet, ist aber noch viel lächerlicher." (dpa/ali)