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Fragiler Frieden

Monika Griebeler, Antakya24. August 2013

Im Mai traf der syrische Krieg die türkische Grenzstadt Reyhanli: Zwei Autobomben töteten mehr als 50 Menschen - das Misstrauen gegenüber den syrischen Flüchtlingen wuchs. Ein Besuch im Vorzimmer des Krieges.

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Straße im türkischen Grenzort Reyhanli (Foto: DW/Monika Griebeler)
Bild: DW/M. Griebeler

Ein Knall brachte die Angst zurück. "Nach den Anschlägen haben wir uns nicht vor die Tür getraut", erzählt Ahmed. Die dunklen Haare nass nach hinten gekämmt, sitzt der junge Syrer auf einer dünnen Matratze, umringt von Kindern. Seit mehr als einem Jahr lebt er mit seiner Familie in der türkischen Grenzstadt Reyhanli - hier in der südtürkischen Provinz Hatay waren die Flüchtlinge aus dem Nachbarland auch willkommen. Bis zum 11. Mai 2013.

An diesem Tag explodieren im Zentrum von Reyhanli zwei Autobomben. Mehr als 50 Menschen sterben, mindestens 140 werden verletzt. Der Anschlag gilt als schlimmster Terrorakt in der Geschichte der Türkei. Premier Recip Tayyip Erdogan verhängt eine Nachrichtensperre. Trotzdem verbreiten sich Halbwahrheiten rasend schnell.

Der verwüstete Ort der Anschläge im türkischen Grenzort Reyhanli (Foto: Reuters)
Tod und Verwüstung: Innerhalb von 15 Minuten explodierten hier die zwei AutobomenBild: Reuters

"Einige Leute haben die Syrer für die Anschläge verantwortlich gemacht. Die wollten uns hier nicht mehr haben", sagt Ahmed im Gespräch mit der DW. Türkische Jugendliche demonstrierten gegen die Flüchtlinge im Land, griffen Autos mit syrischen Nummernschildern an. "Viele Flüchtlinge wurden auf der Straße beschimpft oder sogar bedroht", bestätigt auch Erdem Vardar, Vertreter des Deutschen Volkshochschulverbandes (DVV International) in der Türkei. Viele Syrer flüchten daher aus der Stadt. Zu groß die Angst vor Gerüchten und Hass.

So etwas wie Normalität

Jetzt, mehr als drei Monate später, ist der Kleinstadtalltag nach Reyhanli zurückgekehrt. Syrische Frauen gehen vollverschleiert mit ihren Kindern im Supermarkt einkaufen. Ein alter Mann verkauft von der Ladefläche seiner Pferdekutsche riesige Wassermelonen. In den Cafés trinken Männer Tee und spielen Tavla, die türkische Form des Backgammon.

Der Ort der Anschläge in Reyhanli drei Monate später - inzwischen ist der Wiederaufbau weit vorangeschritten (Foto: Monika Griebeler)
Inzwischen ist der Wiederaufbau in Reyhanli weit vorangeschrittenBild: DW/M. Griebeler

Auch am Ort des Anschlags ist nicht mehr viel zu sehen: Bauarbeiter decken mit neuen Pflastersteinen die Wunden der Straße zu. Ein besonders schwer getroffenes Gebäude wurde abgerissen, ein anderes wieder aufgebaut. Einzig ein paar rohe Betonziegel und Rußflächen um die Fenster zeugen noch von den Explosionen. Die Regierung habe so schnell wie möglich zur Normalität zurückkehren wollen, erzählen Mitarbeiter einer lokalen Nichtregierungsorganisation.

Nur nachts wird es ungemütlich

Unmittelbar nach den Anschlägen hatten die Behörden neun türkische Staatsangehörige verhaftet. Ihnen werden Verbindungen zum syrischen Regime vorgeworfen. Ob sie wirklich die Bombenleger waren, ist umstritten. In der Region kehrte jedoch etwas Ruhe ein.

"Die Leute reden wieder miteinander. Wir kommen miteinander aus", sagt Ahmed. Seine jüngste Tochter geht wieder in eine Schule für syrische Flüchtlingskinder, bald soll auch ihr Bruder dorthin. "Aber", meint Ahmed, "die Einstellung der Türken hat sich verändert."

Das Haus von Ahmed und seiner Familie; sie sind aus Homs nach Reyhanli geflüchtet (Foto: Monika Griebeler)
Zuhause auf Zeit: Ahmed und seine Familie sind aus Homs nach Reyhanli geflüchtetBild: DW/M. Griebeler

Wenige Schritte von Ahmeds Wohnung entfernt sitzt eine Gruppe türkischer Frauen im Schatten. Nein, Probleme mit den Syrern gäbe es eigentlich nicht, sagen sie ganz entspannt, und Sorgen machten sie sich eigentlich auch keine. Nur manchmal, nachts. Dann, wenn die Explosionen aus dem Nachbarland bis hier zu hören sind. Der Krieg ist nicht fern.

Die Stimmung kippt wieder

Und er dauert schon länger an, als die Region hätte ertragen können: Laut UNHCR leben inzwischen mehr als 440.000 syrische Flüchtlinge in der Türkei - die meisten davon außerhalb der Flüchtlingscamps. Und jeden Tag kommen weitere ins Land.

"Am Anfang haben alle die Syrer hier willkommen geheißen. Sie haben sie umarmt und ihnen ihre Häuser geöffnet: Manche haben Wohnungen vermietet, andere sie sogar kostenlos zur Verfügung gestellt", sagt Mustafa Sakman, der stellvertretende Bürgermeister von Kirikhan, einer Kleinstadt nordwestlich von Reyhanli. Viele Syrer sind nach den Anschlägen von Reyhanli hierher geflüchtet. "Wir nähern uns aber dem Punkt, an dem die Leute nichts mehr zu teilen haben - denn es sind inzwischen einfach zu viele Flüchtlinge."

Mustafa Sakman, stellvertretender Bürgermeister von Kirikhan, Türkei (Foto: Monika Griebeler)
Mustafa Sakman: Die Türken versuchen zu helfen - aber es fehlt auch ihnen an vielemBild: DW/M. Griebeler

Kirikhan hat rund 70.000 Einwohner. Inzwischen leben hier zusätzlich geschätzt 25.000 Flüchtlinge. Die Wirtschaft der Stadt leidet: Handel mit Syrien ist nicht möglich, Touristen kommen auch keine mehr und weil kaum noch Waren exportiert werden, verfallen die Preise.

Syrisch-türkischer Mikrokosmos

Zu den wirtschaftlichen Spannungen kommen religiöse Differenzen: Viele der Flüchtlinge sind Sunniten; die Provinz Hatay wird jedoch mehrheitlich von Alewiten bewohnt. Erdogan, der selbst Sunnit ist, unterstützt die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen. Doch bislang gelang es seiner AKP-Regierung nicht, auch die Mehrheit der Bürger von der Bedeutung ihrer Syrien-Politik zu überzeugen.

Der Grenzübergang nach Syrien nahe der türkischen Stadt Reyhanli: Lastwagen voller Zement und streunende Kinder (Foto: Monika Griebeler)
In Laufweite: Der Grenzübergang nach Syrien ist nur fünf Kilometer von Reyhanli entferntBild: DW/M. Griebeler

Durch den Krieg im Nachbarland ist im Grenzgebiet die Anspannung groß, der Nährboden für Gerüchte nach wie vor fruchtbar: Es ist die Rede von Islamisten, die türkische Grenzposten unter Kontrolle hätten, von geplanten Massakern an den Einheimischen und von Türken, die mit Assad kollaborieren.

Dabei gilt Hatay eigentlich als liberale Region. Bis 1938 gehörte sie zu Syrien - und bis heute leben hier Sunniten, Alewiten, Christen und Juden, Türken und Araber, Syrer, Kurden, Armenier und andere Minderheiten. "Das lokale Mosaik religiöser, sprachlicher und ethnischer Gemeinden ist in vielerlei Hinsicht ein Mikrokosmos Syriens", schreibt die Nichtregierungsorganisation "International Crisis Group" in einem Bericht.

Erdem Vardar vom DVV International beobachtet die Lage in Hatay aufmerksam. Er wirkt dabei besonnen, kein Mann wilder Spekulationen - und trotzdem sagt auch er: "Bisher ist es ruhig geblieben. Aber wenn es so weitergeht, wissen wir nicht, wie die Leute reagieren."