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Rechnung ohne Wirt

Baha Güngör2. März 2003

Die türkischen Parlamentarier haben mit ihrer Entscheidung gegen die Stationierung amerikanischer Streitkräfte Mut und Charakter bewiesen. Meint Baha Güngör in seinem Kommentar.

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"Die Souveränität gehört ohne jede Bedingung der Nation", lautet der Spruch an der Wand hinter dem Präsidialpodium in der Großen Nationalversammlung in Ankara. Selten haben die Volksvertreter mit einer Entscheidung derart dem Willen der überwältigenden Mehrheit der Nation entsprochen. Wenn auch äußerst knapp entschieden sich die Parlamentarier, die von der Regierung erwünschte Erlaubnis nicht zu erteilen - die Erlaubnis zur Entsendung von eigenen Soldaten im Kriegsfall ins Ausland und zur Stationierung von amerikanischen Truppen mit Flugzeugen, Hubschraubern und sonstigem schweren Kriegsgerät auf türkischem Territorium zwecks Angriff auf das Nachbarland Irak.

Während im Plenum in nicht-öffentlicher Sitzung darüber beraten wurde, ob und bis zu welchem Umfang den USA ein von der Weltöffentlichkeit mit klarem Votum abgelehnter Militärschlag gegen das Regime in Bagdad mit türkischer Unterstützung stattgegeben werden sollte, demonstrierten Zehntausende auf den Straßen von Ankara gegen einen Irak-Krieg.

Das Parlament wehrte sich gegen ein US-Diktat. Die bereits von Iskenderun an der südtürkischen Mittelmeerküste nach Mardin an der Grenze zum Irak in Bewegung gesetzten US-Einheiten mussten am Wochenende auf halbem Wege umkehren, weil Washington die Rechnung ohne den Wirt aufgemacht hatte. Trotz drohenden politischen und wirtschaftlichen Drucks der USA verbeugten sich die Abgeordneten nicht brav vor der Bush-Administration. Der Wink mit dem Zaunpfahl von jenseits des Atlantik, die von schwerer Wirtschaftskrise heimgesuchte Türkei könne sich das Leben erschweren oder erleichtern, ließ die Parlamentarier kalt.

Ministerpräsident Abdullah Gül und der Chef der allein regierenden reformistisch- islamistischen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP), Recep Tayyip Erdogan, hatten nach erfolgreichen Probeabstimmungen auf einen Fraktionszwang verzichtet. Das Ergebnis war, dass die Abgeordneten tatsächlich nach ihrem Gewissen und nicht auf Befehl ihre Stimmen gegen einen Krieg abgaben.

Dass die 177 sozialdemokratischen Abgeordneten geschlossen gegen eine militärische Option zur Entwaffnung Saddam Husseins stimmen, war klar. Dass von den 362 AKP-Abgeordneten fast 100 ihrer eigenen Partei- und Regierungsführung widersprechen werden, konnte angesichts der innen- und außenpolitischen sowie der wirtschaftlichen Nöte wahrlich nicht erwartet werden. So wurde die von der Verfassung vorgeschriebene absolute Mehrheit der an der Abstimmung beteiligten 533 Abgeordneten äußerst knapp verfehlt, weil statt der erforderlichen 267 lediglich 264 Ja-Stimmen zum Krieg zusammenkamen.

Die international immer wieder bei schwerwiegenden Entscheidungen gestellte Frage, was wohl die türkische Armee als Machtfaktor dazu sagt, ist diesmal schnell beantwortet: Die Militärs denken nicht anders als Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer, der kürzlich unmissverständlich auf die Verfassung verwiesen hatte, die einer Entscheidung für die Unterstützung von militärischen Aktion von Verbündeten gegen Drittstaaten eine internationale Legitimation voraussetzt. Diese Legitimation, die nur von den Vereinten Nationen und nicht von Washington eigenmächtig erwirkt werden kann, liegt einfach noch nicht vor. Somit handelte das türkische Parlament ganz klar im Einklang mit der Verfassung.

Ob das türkische Parlament erneut mit der Regierungsvorlage konfrontiert wird, bleibt abzuwarten. Eine erneute Ablehnung würde der Regierung irreparablen Image-Schaden zufügen, ja ihren Fortbestand stark gefährden. Um die USA doch noch zufrieden stellen zu können, könnte ein Fraktionszwang das erwünschte Ergebnis herbeiführen, was aber ein teuer erkaufter Sieg wäre, weil Abgeordnete, die zu einer Entscheidung gegen ihr Gewissen gezwungen werden, zu unberechenbaren Zeitbomben für die Regierungspartei würden.

Die Folgen der Ablehnung könnte der Türkei künftig mehr Ärger bringen als zum jetzigen Zeitpunkt voraussehbar. Wenn Washington an ihren Kriegsplänen festhält und ohne die Unterstützung der Türkei vorgeht, wäre ein Staat oder zumindest eine weitgehende autonome Region für die irakischen Kurden mit US-Hilfe möglicher denn je. Auch die Mitkontrolle über die Ölfelder von Kirkuk und Mossul ist vorerst in weite Ferne gerückt.

Alle Faktoren untereinander aufgelistet und zusammengezählt führt zu dem Ergebnis, dass die Türkei Mut und Charakter im Sinne Europas gezeigt hat. Sie ist endgültig in den Reihen der EU-Staaten, die sich allen voran Deutschland für eine Ausschöpfung der friedlichen Mittel zur Lösung der Irak-Krise einsetzen, angelangt – und das als direktes Nachbarland der irakischen Despoten um Saddam Hussein und damit in kürzester Reichweite der bislang noch nicht entdeckten Massenvernichtungswaffen. Bleibt nur noch die Hoffnung darauf, dass Europa die Türkei nicht vor weitere Hürden stellt, um sie in die europäischen Integrationsprozesse einzubeziehen.

Die Werte und Normen Europas sowie europäisches Gedankengut wird nur noch mit schwindender Präzision für bestimmte Kulturen und Religionen vorbehalten bleiben. Ein Plädoyer für Europatauglichkeit der Türkei ist die Entscheidung des türkischen Parlaments auf jeden Fall, weil sie aufrichtig und nach freiem Gewissen getroffen worden ist. Neuer Druck aus Washington und neue innerparteiliche Zwänge könnten in wenigen Tagen eine andere Entscheidung herbeiführen, was aber den Wert der ersten freien Entscheidung nicht mindern wird.