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Rückschlag für türkische Akademiker

Menekse Tokyay (kk)14. August 2016

Die Türkei hat das mit der EU geschlossene Jean-Monnet-Stipendium auf Eis gelegt. Viele türkische Studierende können dadurch nicht mehr in Europa studieren. Kritiker deuten die Entscheidung als Abwendung von der EU.

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Die Beyazit-Universität in Istanbul (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/F. Baumgart

Die Aussichten waren gut: Schon lange hatte sich Emre Kosif, Absolvent des Studiengangs Internationale Beziehungen an der Technischen Hochschule des Mittleren Ostens in Ankara, darauf gefreut, mit einem Jean-Monnet-Stipendium (JM) an der London School of Economics zu studieren.

Doch dann las er im Internet, dass die türkischen Behörden das diesjährige Stipendienprogramm gestrichen hätten - "aufgrund der jüngsten Entwicklungen in der Türkei", wie es in der offiziellen Begründung hieß. Man wolle den Ruf des Programms nicht gefährden.

Das Programm, das für Studiengebühren und Lebenshaltungskosten aufkommt, wird von der EU finanziert und vom türkischen Ministerium für EU-Angelegenheiten verwaltet. In einer weiteren Erklärung teilte das Ministerium mit, die Entwicklung nach dem Putsch erschwere das Entsendeverfahren von Angestellten des Öffentlichen Dienstes und der Universitäten. Darum werde das Program zeitweilig ausgesetzt.

Für Kosif und zahlreiche andere Absolventen bedeutete die Entscheidung eine herbe Enttäuschung. "Angesichts der Anstrengungen, die ich für das Programm auf mich genommen habe, ist diese unfaire Entscheidung ein echter Rückschlag", sagt Kosif. "Mein Traum von einer guten Ausbildung an einer der angesehensten Universitäten der Welt und einer Karriere in einer internationalen Organisation sind durch diese Aufkündigung zunichte gemacht worden."

Porträt Fethullah Gulen (Foto: dpa)
Gegner Erdogans: der türkische Prediger Fethullah GülenBild: picture-alliance/dpa/Fgulen.Com

Brücke in die EU wird abgerissen

Kosif kann sich zwar noch einmal neu für das Stipendium bewerben. Das aber würde ein weiteres Jahr Wartezeit bedeuten. Ob er dazu bereit ist, weiß er noch nicht.

"Das Traurigste an der ganzen Situation ist, dass die türkischen Behörden sich über die Bedeutung dieses Integrationsprojekts weder im Klaren sind, noch sich dafür verantwortlich fühlen. Die Entscheidung ist schlimm für all jene, die dieses Stipendium wirklich brauchen", so Kosif zur DW.

Das JM-Stipendienprogramm will junge Bürger aus EU-Beitrittskandidaten durch Studienprogramme an die EU heranführen und ihnen auf diese Weise einen vertieften Blick in den Prozess der europäischen Integration ermöglichen.

Darum ist die Stornierung nicht nur ein Rückschlag für die Karriere von etwa 170 Kandidaten aus der Türkei. Sie bedeutet zugleich einen weiteren Schritt weg von dem EU-Beitritt. Der Beschluss reißt eine Brücke ein, über die in den vergangenen zwei Jahrzehnten Hunderte junger türkischer Bürger geschritten sind.

Gegen Gülen-Bewegung gerichtete Maßnahme?

Allerdings kommt die Entscheidung nicht aus heiterem Himmel. Nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli wurden mehr als 60.000 türkische Bürger verdächtigt, Anhänger des in den USA lebenden Klerikers Fethullah Gülen zu sein, den die türkische Regierung für den Coup verantwortlich macht. Sie wurden von ihren Aufgaben entbunden, Tausende kamen in Haft. Andere mussten hinnehmen, dass ihr Pass für ungültig erklärt wurde.

Flaggen der Türkei und der Europäischen Union (Foto: Getty Images/F. Vogel)
Schwierige Beziehungen: die Türkei und die Europäische UnionBild: Getty Images/F. Vogel

Politiker der regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) wiesen Gerüchte zurück, das JM-Stipendium sei gestrichen worden, um die Mitglieder der Gülen-Bewegung daran zu hindern, aus der Türkei zu fliehen. Deren Namen seien noch gar nicht ermittelt, so die Politiker.

Talip Kucukcan, Akademiker und AKP-Politiker, sagt, die Entscheidung sei vor dem Hintergrund der aktuellen Situation getroffen worden. Er weist darauf hin, dass die Regierung besonderen Wert auf die Fairness des Prüfungsprozesses und der daraus hervorgehenden Auswahl der Stipendiaten lege.

"Die Frage ist in der Türkei sehr sensibel, da die Prüfungen von Mitgliedern der Gülen-Bewegung in der Vergangenheit manipuliert wurden. Sie haben ihren Einfluss und Autorität zugunsten ihrer Anhänger genutzt, indem sie offene Fragen stellten", so Kucukcan im DW-Interview. Das Stipendium sei zwar derzeit auf Eis gelegt, werde aber im kommenden Jahr wieder aufgenommen, erklärte Kucukcan.

Schwächung EU-Beitrittsperspektive

Tayyip Erdogan während der Demonstration gegen den Putschversuch, (Foto: Reuters/K. Ozer)
"Präsident der Herzen": Recep Tayyip Erdogan während einer Demonstration gegen den PutschversuchBild: Reuters/K. Ozer

Der ehemalige JM-Stipendiat Bahadir Kaleagasi, inzwischen internationaler Koordinator des türkischen Wirtschaftsverbands TUSIAD, beklagt, dass viele Landsleute nun nicht in den Genuss des Programmes kämen. "Politische Institutionen brauchen bisweilen Zeit, um zu erkennen, dass die sozialen Instrumente der Integration für das Land von Nutzen sind", so Kaleagasi gegenüber DW.

"Allerdings hat die EU viele Fehler im Umgang mit der Türkei gemacht, so etwa, indem sie das Verhandlungskapitel über die Demokratie blockierte." Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei hätten unter politischen Problemen gelitten. "Jetzt nehmen sie den sozialen Fortschritt als Geisel."

Im Hinblick auf die immer geringer werdenden Beitrittsperspektiven der Türkei sei es kaum verwunderlich, dass die Regierung das Programm auf Eis lege. Sähe die Türkei größere Chancen für einen Beitritt, hätte sie hinsichtlich des Stipendiums wohl anders entschieden.

Professoren an den türkischen Universitäten klagen jetzt schon über die zurück gehende Motivation der Studenten. Viele hätten auf ein Studium im EU-Ausland gehofft. Das aber könnten sich viele nun nicht mehr leisten.

Der Autor dieses Artikels war 2005 Stipendiat des Jean Monnet-Programms.