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Rätsel um vietnamesischen Bildungserfolg

Rodion Ebbighausen16. März 2016

Bildung ist der Schlüssel zur Integration. Seit Jahren sind Südostasiaten im deutschen Bildungssystem überdurchschnittlich erfolgreich. Erklärungsversuche gibt es viele, aber noch keinen, der überzeugt.

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Bildungserfolg Vietnamesen Anm Minh und Minh bei den Hausaufgaben
Bild: DW/R.Ebbighausen

Wer die Familie Le Pham besucht, findet ein Stück Vietnam in Deutschland. Die Le Phams leben in einem Mehrfamilienhaus in einer Kleinstadt am Rhein. In der Wohnung duftet es nach Reis, frischen Kräutern und Fischsauce. Im Wohnzimmer gibt es die obligatorische schwarze Ledercouch, einen sehr großen Flachbildfernseher und ein auf Kopfhöhe montiertes Brett, auf dem mit Räucherstäbchen und Fotos der Vorfahren gedacht wird. In zwei Vitrinen sind teure Whiskysorten sowie Holz- und Steinschnitzereien ausgestellt.

Auch der Lebenslauf der Eltern ähnelt dem von vielen der etwa 100.000 Vietnamesen oder Deutschen vietnamesischer Abstammung, die heute hier leben. Der kräftig gebaute Vater Than Yen Le besuchte in Vietnam die Oberschule und ging dann nach Tschechien, wo er eine Ausbildung zum Metall- und Maschinenbauer absolvierte. Nach dem Zusammebruch des Ostblocks entschied er, in den Westen zu gehen. Seit 1991 lebt er in Deutschland. Heute betreibt er ein asiatisches Bistro in Köln. Seine Frau Thi Lam Pham studierte in Vietnam Modedesign, bevor sie 2004 nach Deutschland kam. Sie arbeitet in einem Nagelstudio.

Zwei Brüder

Gemeinsam haben sie zwei Jungs: den zurückhaltenden Minh Anh und den forschen jüngeren Bruder Minh. Auf die Frage nach ihren Lieblingsfächerns sagt Minh ohne Zögern: "Musik und Kunst!" Der ältere Minh Anh antwortet leise: "Sport und Mathematik - Fächer, die einfach sind." Sie besuchen die fünfte und sechste Klasse des Gymnasiums. Der ältere war im vergangenen Schuljahr Klassensprecher, der jüngere ist es in diesem Jahr. Mit Stolz erzählt die Mutter, dass ihre Söhne gerne zur Schule gehen und sie nicht immer zum Elternsprechtag kommen muss, da die Lehrerin sehr zufrieden ist.

Da beide Eltern berufstätig sind, bleiben die Kinder bis 16 Uhr in der Schule. Die Mutter kommt manchmal erst um 18 Uhr nach Hause, der Vater in der Regel erst um 21 Uhr. Auch in diesem Punkt sind die Le Phams typisch. Um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern, müssen etliche Vietnamesen viel arbeiten. Und das bedeutet für die Kinder: Sie sind schon früh auf sich gestellt. In der Zeit nach der Schule lernen sie für den nächsten Tag, sagen sie. "Oder sie bereiten schonmal das Abendessen vor", wirft die Mutter ein. Der jüngere Sohn nimmt außerdem Gitarrenunterricht, während der ältere am Montag die Tennis-AG des Gymnasiums besucht. Trotz dieser nicht einfachen Bedingungen sind beide gut in der Schule. Der ältere hätte eine Klasse überspringen können, aber die Mutter wollte das nicht. "Es ist besser, wenn er Schritt für Schritt lernt."

Bildungserfolg Vietnamesen Famile Le Pham Gruppenfoto
Die Familie Le Pham. Die Eltern legen viel Wert auf die Ausbildung ihrer KinderBild: DW/R. Ebbighausen

Rätselhafter Bildungserfolg

Die Kinder der Le Phams sind gut in der Schule. Das gilt auch für viele andere Vietnamesen in Deutschland, die im Schnitt sogar noch besser als viele Deutsche sind. Das Statistische Bundesamt verzeichnet für das Schuljahr 2013/2014, dass 47,2 Prozent der deutschen und 64,4 Prozent der vietnamesischen Jugendlichen ein Gymnasium besuchten.

Der Befund an sich ist nicht neu und auch in den USA seit vielen Jahren bekannt. Es sind die dahinter stehenden Fragen, die Wissenschaftler interessieren: Warum gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen? Und wie lässt er sich erklären? Diesen Fragen sind 2015 der Soziologe Bernhard Nauck von der Universität Chemnitz und Erziehungswissenschaftler Birger Schnoor von der Universität Hamburg nachgegangen. Sie untersuchten in einer empirischen Studie 720 deutsche, vietnamesische und türkische Familien.

Es ging den beiden Wissenschaftlern in einem ersten Schritt darum, die klassische Erklärung für den Bildungserfolg zu überprüfen. Diese lautet: Je größer das Einkommen einer Familie ist, je besser die soziale Vernetzung und je höher die Bildung der Eltern ist, desto erfolgreicher sind die Kinder in der Schule. Auf Grundlage dieses Modells müssten vietnamesische Kinder allerdings ähnlich schlecht abschneiden wie türkische Kinder. "Aber sie tun es nicht. Das ist das Rätsel, um das es in unserem Aufsatz eigentlich geht", erklärt Nauck im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Alternative Erklärungsansätze

Nachdem das sogennante Ressourcen-Modell als Erklärung ausgeschlossen werden konnte, suchten die Forscher nach Alternativen. "Der erste Hauptverdächtige war natürlich der Erziehungsstil." Nauck konnte bereits in anderen Studien zeigen, dass vietnamesische Erziehung wesentlich strenger ist als etwa die deutscher Eltern. Doch einer empirischen Überprüfung hält auch die These "autoritärer Führungsstil gleich Bildungserfolg" nicht stand. "Es ist nicht so: je autoritärer die Eltern sind, desto größer ist der Schulerfolg."

Und noch einer möglichen Erklärung für die guten Leistungen vietnamesischer Schüler gingen die Wissenschaftler nach: Dabei geht es um das konfuzianische Erbe, nach dem Bildung ein Wert an sich ist und ein guter Schulabschluss der Kinder zum Renommee der Eltern beiträgt. Aber auch hier gilt: "Sowohl die türkische als auch die vietnamesische Migrantengruppe zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr stark auf die Schule setzen, wenn es um sozialen Aufstieg, soziale Anerkennung geht." Auch dieser Ansatz führt demnach nicht weiter.

Perspektivwechsel vielversprechend

Wissenschaftler Nauck räumt ein, dass die Frage nach dem Bildungserfolg vietnamesischer Migrantenkinder auch nach der Studie offen bleibt. Er hat aber schon Ideen, wo er ansetzen könnte. Vielleicht habe man bisher zu sehr auf die Eltern geschaut und zu wenig auf die Kinder. Ein Perspektivwechsel könnte die Wissenschaft weiterbringen. "Es geht möglicherweise viel mehr um die Reaktionen von Eltern auf die Verhaltensweisen ihrer Kinder. Wie schnell geben Eltern beispielsweise auf, wenn sich der Bildungserfolg des Kindes nicht einstellt", sagt Nauck. "Es gibt einige Hinweise darauf, dass sich diesbezüglich ostasiatische Eltern deutlich von anderen Arbeitsmigranten, aber auch von Deutschen unterscheiden." Er nennt das Beispiel Nachhilfe. Während deutsche Eltern in der Regel bei einer Vier nicht über Nachhilfe nachdenken, wäre in manch vietnamesischen Familien eine Zwei bereits ein Grund für zusätzlichen Unterricht.

Deutschland Klassenzimmer Symbolbild
In deutschen Klassenzimmern schneiden Vietnamesen überdurchschnittlich gut abBild: picture-alliance/dpa/M. Murat

Integration nur mit Bildung

Bildung ist wichtig - auch, wenn es um die Integration geht. Davon ist Nauck überzeugt. "Je gebildeter ein Mensch ist, desto besser kann er mit den verschiedenen Situationen des Lebens umgehen." Zum zweiten ist eine gute, zertifizierte Bildung das Ticket ins Erwerbsleben. "In Deutschland sogar noch mehr als in jeder anderen Gesellschaft." Das ist auch vielen Migranten klar. "Weil Migranten aufstiegsorientiert sind, sonst wären sie nämlich nicht gewandert, ist Bildung die einzige Karte, auf die sie wirklich setzen können."

Ganz in diesem Sinne will der jüngere Minh später einmal Moderator werden, und zwar nicht bei einem Foramt wie "Deutschland sucht den Superstar" sondern eher bei der Tagesschau. Er übt manchmal schon, indem er Videos mit dem Handy seiner Mutter dreht. Der ältere weiß zwar noch nicht, was er werden möchte, allerdings ist er sicher: "Wer mehr lernt, kann später auch mehr verdienen."

So sehen das auch die Eltern von Minh Anh und Minh. "Ich wünsche mir einfach, dass meine Kinder die Schule beenden und dann weiter an der Universität studieren", sagt die Mutter. "Das ist wichtig für das Leben hier in Deutschland." Für ihren Mann und sie selbst sei das nicht mehr so entscheidend, denn sie würden später vielleicht zurück nach Vietnam gehen. Sie ist sich aber sicher, dass die Zukunft ihre Kinder in Deutschland liegt.