1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Rütteln am Tabu

Silke Ballweg6. Oktober 2009

Wie viele Menschen in den fünfziger Jahren in chinesischen Straflagern verhungerten, ist nicht bekannt. Zeitzeugen werfen nun erstmals Licht auf dieses Tabu.

https://p.dw.com/p/JxsX
Das kommunistische China macht in den 1950ern Andersdenkenden den ProzessBild: ullstein bild - AKG Pressebild

Da ist zum Beispiel die Frau aus Shanghai. Sie will ihren Mann besuchen und steht eines Tages am Eingang der kleinen Felsenhöhle. In der hausen in dem chinesischen Straflager Jiabiangou rund zwanzig Männer. Der Ehemann der Besucherin ist eine Woche zuvor an Hunger gestorben. Als die Frau davon erfährt, hat sie nur noch eine Bitte: Ein letztes Mal will sie ihren Mann noch sehen. Ein Lagerinsasse aber druckst herum und will sie nicht zu dem Grabhügel führen. Kurz darauf gesteht er, warum nicht: "Jemand hat ihm das Fleisch von den Knochen geschnitten."

Die Hundert-Blumen-Bewegung

Ende der fünfziger Jahre wollte Chinas Führung unter Mao Zedong das politische System verbessern. Die Menschen im Land, allen voran die Intellektuellen, sollten während der sogenannten "Hundert-Blumen-Bewegung" sagen, womit sie unzufrieden waren. Überall meldeten sich daraufhin die Kritiker zu Wort. Sie beanstandeten Entscheidungen der Partei, prangerten arrogante und korrupte Parteimitglieder an und machten Vorschläge zur Verbesserung des Lebens im kommunistischen China. Bald darauf mussten sie aber erkennen, dass sie der Partei in naivem Glauben gefolgt waren. Denn die drehte den Spieß plötzlich um und warf ihnen konterrevolutionäres Verhalten vor. Zehntausende wurden in Arbeitslager gesperrt.

Chinas Hungerkatastrophe in den 1950ern

China Geschichte Industrialisierung 1961
Am Aufbau des kommunistischen China müssen sich alle beteiligenBild: AP

In China herrschten damals, auch aufgrund Maos katastrophaler Politik schlimme Hungersnöte, 30 Millionen Menschen starben landesweit. Dass viele Unschuldige in den Lagern den Tod fanden, das muss seither verschwiegen werden. Und so rührte der chinesische Schriftsteller Yang Xianhui an ein Tabu, also er Ende der neunziger Jahre Überlebende interviewte und über sie Portraits und Protokolle schrieb. Sieben Geschichten wurden nun unter dem Titel "Die Rechtsabweichler von Jiabiangou" auf Deutsch veröffentlicht.

Für den Sozialismus werden Tote in Kauf genommen

In seinen Texten schildert Yang Xianhui, wie die Menschen damals aufgrund willkürlicher Entscheidungen in Arbeitslager gesperrt wurden. Er zeigt, dass Parteimitglieder bereit waren, für die Weiterentwicklung des Sozialismus Tote in Kauf zu nehmen. Und er beschreibt detailliert, wie die Gefangenen in Jiabiangou jeden Tag auf`s Neue verzweifelt nach Nahrung suchen. Wie sie Grassamen und Wurzeln essen. Und wie Hunderte schließlich sterben: "Anfangs brachte man die Toten hinter die Dünen, aber jetzt starben zu viele, und die Kräfte derer, die für die Beerdigungen zuständig waren, ließen ebenfalls nach. Also vergrub man die Toten in einem Sandhügel direkt hinter dem Haus."

Diese Offenheit ist eine Sensation

Buchcover Die Rechtsabweichler von Jiabiangou von Yang Xianhui
Politisch brisant: Erinnerungen an ein UmerziehungslagerBild: suhrkamp

Yang Xianhui beschreibt die Situation im Lager schonungslos. Sein Buch ist deshalb eine kleine Sensation. "Wenn man Sachbücher aus dieser Zeit liest, so sind die wesentlich trockener. Die produzieren Zahlen und Statistiken", sagt Thomas Zimmer, Professor für chinesische Literatur an der Universität Köln. "Aber Bücher wie dieses hier sind viel anschaulicher und deswegen klagen sie an."

Zugeständnisse an die Zensur?

Yang Xianhui klagt aber nicht direkt an. Weil er wollte, dass sein Buch auch in China publiziert werden kann, machte er Zugeständnisse an die Zensoren, meint Zimmer. Und so werden weder Mao und die Partei für ihre menschenverachtende Politik zur Rechenschaft gezogen. Noch erklärt das Buch, wie es dazu kam, dass die Menschen in die Lager gesperrt wurden. Auf einen deutschen Leser wirkt der Text deswegen an vielen Stellen allzu unkritisch. Er scheint zu wenig zu hinterfragen und anzuklagen. "In China ist solch ein Buch ein sehr kritisches Buch" sagt jedoch Thomas Zimmer. Denn: "Selbst wenn es die direkte Kritik am Staat, an Mao, am System nicht zum Ausdruck bringt. Die Frage, wie diese Katastrophe überhaupt entstehen konnte, diese Frage liest der chinesische Leser nämlich mit."

Mit seinen Geschichten setzt Yang den Opfern der politischen Willkür ein literarisches Denkmal. Das ist umso wichtiger, als die Toten damals von offizieller Seite vertuscht wurden. Und weil sie auch heute noch verschwiegen werden müssen.