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"Putin ist verantwortlich für alles"

Juri Rescheto10. Februar 2016

Februar 2015: Boris Nemzow wird ermordet. Februar 2016: Sein Parteikollege Michail Kasjanow wird bedroht und überfallen. Für Russland ist das ein gefährliches Zeichen. Aus Moskau berichtet Juri Rescheto.

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Screenshot Ramsan Kadyrow auf Instagram
Bild: Instagram.com/kadyrov_95

Dienstagabend, halb zehn, unweit vom Roten Platz. Draußen längst dunkel. Michail Kasjanow will gerade zahlen, da stürmen zwei junge Männer “nicht slawischen Aussehens” und “mit kaukasischem Akzent” ins Restaurant. So beschreibt sie Kasjanow selbst später. Einer wirft dem Politiker eine Torte ins Gesicht, schreit “Du bist ein Feind!” und “Wir kriegen dich!”. Dann verlassen sie rasch das Lokal. Draußen wartet ein Dutzend Komplizen. Bis die Polizei kommt, sind sie weg.

"Wir kriegen dich!"

Ich erfahre davon eine Stunde später. Und bekomme Angst. Angst um das Leben von Michail Kasjanow. Erst vor einer Woche wurde er vom tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow persönlich bedroht. Mit einem Video im Netz, auf Kadyrows Instagram-Seite. Darin ist Kasjanow aus der Perspektive eines Scharfschützen zu sehen - der Kremlkritiker als Zielscheibe eines Mörders.

“Was ging Ihnen durch den Kopf?”, frage ich den Vorsitzenden der Partei Parnas in seiner Parteizentrale. “Das war kriminell", beginnt Kasjanow leise. "Ein Verbrechen, die Androhung einer Ermordung. Ein Versuch, die demokratische Opposition in Russland einzuschüchtern und auf die Gesellschaft Druck auszuüben.” Dann wird seine Stimme fester, lauter: “Präsident Putin ist in der Pflicht, diesen zügellosen, hemmungslosen Beamten zurechtzuweisen, den er einst selbst installiert hat.”

Wird mit dem Tod bedroht - und weist Putin eine große Mitschuld zu: Michail Kasjanow
Wird mit dem Tod bedroht - und weist Putin eine große Mitschuld zu: Michail KasjanowBild: picture-alliance/AP Photo/P. Golovkin

Der Beamte Kadyrow gilt als Gefolgsmann Putins, als Garant einer scheinbaren Stabilität in der russischen autonomen Republik Tschetschenien. Aber auch als jemand, der immer mehr auf eigene Faust handelt.

“Der Kreml schwieg. Warum?”

“Letztes Jahr, als Boris Nemzow ermordet wurde, gab es zuerst auch keine Reaktion", sagt Kasjanow. "Erst als die Öffentlichkeit laut wurde und die offiziellen Machtstrukturen für den Mord mitverantwortlich machen wollte, sagte der Chef der Präsidentenadministration, dass der Kreml nichts gegen Kadyrow habe. Darum kann man auch jetzt das Schweigen des Kreml als das Gutheißen einer solchen Tat interpretieren. Das bedeutet, dass Putin persönlich für alles, was passiert, Verantwortung trägt. Einschließlich der Drohungen an die Opposition.”

“Sie nennen Kadyrow 'zügelloser Beamter.' Darf er alles?”

“So sieht's aus. Andere erlauben sich so etwas nicht. Vermutlich wissen sie, dass sie dafür bestraft oder sogar entlassen werden. Kadyrow sieht sich aber außerhalb des gesetzlichen Rahmens. Mehr noch, er weitet diesen Rahmen immer mehr aus. Er fordert Putin heraus, indem er deutlich mehr Macht einfordert, als es ihm eigentlich zusteht und als es das Gesetz erlaubt.”

Ein Aufruf zum Blutbad

Es ist eine kleine einstöckige Stadtvilla mitten in der Fußgängerzone von Moskau, in der unser Gespräch stattfindet. Hier hat Michail Kasjanow, unter Präsident Putin kurzzeitig sogar Ministerpräsident Russlands, heute sein Büro. Kleine Fenster, zugedeckt mit Vorhängen. Der Straßenlärm dringt kaum herein. Großer Eichentisch. Schwarze Ledersofas. Am Eingang döst der Wachmann.

Was herrscht hier, Recht oder Faustrecht? Russlands Hauptstadt Moskau
Was herrscht hier, Recht oder Faustrecht? Russlands Hauptstadt MoskauBild: Reuters/M. Shemetov

“Haben Sie Angst?”

Kasjanow weicht aus:

“Wir alle müssen verstehen, dass die Situation sehr angespannt ist. Manche stellen das (das Drohvideo von Kadyrow. Anm. d. Red.) als einen Witz dar. Andere dagegen sehen darin den Aufruf zum Blutbad. Natürlich belastet das uns alle hier. Aber wir haben unseren Weg gewählt und unser Ziel bestimmt: den Kampf für den Aufbau eines demokratischen Staates. Diesen Kampf wollen wir führen. Ohne Wenn und Aber.”

Zwischen unserem Gespräch und dem Überfall im Restaurant liegt eine Woche. Am 27. Februar begehen die Russen den ersten Jahrestag der Ermordung von Boris Nemzow. Eisiger Wind bläst mir ins Gesicht, als ich Michail Kasjanows Parteizentrale verlasse.